Nato-Gipfel und Ukraine-Konflikt: Verteidigungsbündnis vor historischem Kurswechsel
Am heutigen Donnerstag beginnt in Wales der vielleicht wichtigste Nato-Gipfel der vergangenen Jahre. Es geht um die Ukraine und damit um die Frage, was man Wladimir Putin und dessen Machtgebaren entgegensetzen kann.
Was Wladimir Putins Friedensinitiativen angeht, glauben sie in der Bundesregierung vorläufig gar nichts mehr. Am Mittwoch verbreitet der russische Präsident einen Sieben-Punkte-Aktionsplan zur Lösung der Ukrainekrise sowie die Hoffnung, dass es bis Freitag zu einer endgültigen Einigung mit Kiew kommen werde. Am Donnerstag und Freitag trifft sich die Nato zu ihrem Gipfel in Wales. Es ist nicht das erste Mal, dass Putin sich kurz vor wichtigen Treffen im Westen plötzlich zugänglich zeigt. „Gipfelfrieden“ hat einer aus der Unionsfraktion solche Vorstöße neulich genannt: taktische Züge im Moskauer Desinformationskrieg.
Skepsis und Misstrauen sind infolgedessen auch bei den jüngsten Angeboten Putins groß. „Die haben sich in der Vergangenheit leider nie bewahrheitet“, kommentiert ein Vertreter der Bundesregierung. Die aktuelle Entwicklung werde jedenfalls die Nato nicht davon abbringen, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer notgedrungen zu ihren Wurzeln zurückzukehren – zum Verteidigungsbündnis Richtung Osten.
Historischer Kurswechsel
Für die Allianz ist das ein Kurswechsel von historischen Ausmaßen. In Berlin reden deshalb auch Leute, die sonst nicht zu Geschichtspathos neigen, vom „vielleicht wichtigsten Nato-Gipfel der letzten Jahre“. Eigentlich sollte die Dauerkrise in Afghanistan das Treffen bestimmen, jetzt rutscht die Lage am Hindukusch unter die „sonstigen“ Themen. Der Ukraine- Konflikt vor den Toren des Bündnisses dominiert alles, der ukrainische Präsident Petro Poroschenko ist der wichtigste Gast.
Dabei besteht über die technisch-militärische Reaktion auf das russische Vorgehen gegen die Ukraine unter den 28 Bündnispartnern Einigkeit. Wichtigstes Element ist der Aufbau einer „Speerspitze“ innerhalb der Schnellen Eingreiftruppe der Nato. Geplant ist eine Art superschnelle Eingreiftruppe, die nicht binnen Wochen und Monaten, sondern in wenigen Tagen kampfbereit an jedem Ort im Bündnis verlegt werden kann.
Die Truppe soll etwa Brigadestärke haben, rund 4000 Mann, und aus Heer, Marine und Luftwaffe bestehen. Wie schon die Nato-Eingreiftruppe besteht die „Speerspitze“ aus nationalen Verbänden, die die Mitgliedstaaten im Rotationsverfahren bereitstellen und die, so lange sie nicht tatsächlich gebraucht werden, in ihren heimischen Kasernen bleiben.
Die Nato macht keinerlei Hehl daraus, wo sie den neuen Gegner sieht: im einstigen Partner Russland. Damit die „Speerspitze“ wirksam agieren kann, sollen Logistiker aus Bündnisarmeen dauerhaft in den Grenzstaaten zu Russland stationiert werden, vor allem also im Baltikum und in Polen. Sie sollen dafür sorgen, dass Kasernen, Flugplätze, Depots und andere Infrastruktur im Notfall sofort verfügbar sind. Für die Stabsarbeit steht der deutsch-dänische-polnische Stab in Stettin zur Verfügung.
Beistandsklausel soll für alle Bündnismitglieder gelten
Das alles soll verhindern, dass die Nato unvorbereitet zuschauen müsste, wenn Russland in einem Nato-Land das gleiche Spiel mit Unschuldsmiene und Uniformierten ohne Hoheitsabzeichen wie in der Ukraine anfängt. „Die Nato muss eine überzeugende Antwort auf die veränderten Bedingungen finden“, heißt es dazu in deutschen Regierungskreisen. Und klar müsse auch sein: „Die Beistandsklausel (des Nato-Vertrags) gilt für alle Staaten des Bündnisses.“
So unstrittig dieser militärische Teil ist, so uneinig ist sich die Allianz über den künftigen politischen Umgang mit dem einstigen Partnerland Russland. Kanzlerin Angela Merkel bekräftigt am Mittwoch noch einmal, dass Deutschland an der Nato-Russland-Grundlagenakte festhalten will. In deutschen Regierungskreisen wird das als prinzipielle Frage behandelt: „Wir wollen vertragstreu sein“, sagt ein hochrangiger Diplomat – gerade weil Putin Abkommen etwa über die Garantie der Grenzen der Ukraine „klar verletzt“ habe.
Andere in der Nato sehen dagegen keinen Sinn mehr darin, sich jetzt noch an die Abmachung zu halten, die 1997 den Nato-Russland-Rat begründete. Darin verpflichtet sich das Bündnis, keine „substanziellen Kampftruppen“ in seinen östlichen Mitgliedstaaten dauerhaft zu stationieren. In Polen und im Baltikum aber drängen die Regierungen darauf, dass genau das geschieht.
Ihr Kalkül ist aus deutscher Sicht sogar nachzuvollziehen. Auch in der Bundesrepublik galten die Kasernen der Alliierten als beste Rückversicherung, dass die Verbündeten ihre Beistandsverpflichtung im Ernstfall ernst nehmen. Doch in Berlin mag man einfach noch nicht glauben, dass Putins Russland schon zur neuen Sowjetunion mutiert ist, mit der sich nicht mehr vernünftig reden lässt.