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Und aus der Türkei Baklava. Multikulturalismus als süßes Versprechen für ganz Europa.
© Illustration: Martha von Maydell/mvmpapercuts.com

Für einen Kontinent der Vielen: Vermischung statt Distanz

Wenn das Wort vom Fremden ausgedient hat: Ein Essay über Herausforderungen und Chancen eines multikulturellen Europas.

Der nachfolgende Essay beruht auf einer Rede, mit der Can Dündar am 12. Juni die von Asmus Trautsch kuratierten Reihe „Forum - Europas Vielfalt hat keine Haut“ beim 22. Poesiefestival Berlin eröffnete. Vollständig – auch im türkischen Original – ist sie in der Übersetzung von Özlem Özgül Dündar auf der vom Haus für Poesie betriebenen Website poesiefestival.org/de nachzulesen. Can Dündar 1961 im türkischen Ankara geboren, trat 2016 als Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“ zurück. Er hatte über illegale Waffentransfers des Geheimdienstes nach Syrien berichtet. In Abwesenheit wurde er zu insgesamt 27,5 Jahren Haft verurteilt. Seit 2016 lebt er im deutschen Exil.

Ich bin neu in Europa. Im Vergleich zu denen, die über das Meer kommen, habe ich mehr Glück: Ich bin ein politischer Einwanderer. Von meinem Land, das dem Populismus verfallen ist, habe ich mein Leben noch gerade nach Europa retten können. Hier bin ich Menschen begegnet, die meine Situation verstehen, die mich hören. Aber nicht alle Menschen, die ich traf, waren so: Es gab viele, die mich, uns als Bereicherung für die europäische Kultur gesehen haben, und genauso viele, die Fremde wie mich als Gefahr für diese Kultur aufgefasst haben.

Auch wenn ich in Europa mitten in einem Kampf der Kulturen gelandet bin, so kam ich hierher aus einem Krieg der Kulturen. In meinem Land wurde ich als jemand angesehen, der sich gegen seine eigene Kultur stellt; für manche war ich auch jemand, der dieser Kultur etwas hinzufügte, sie bereicherte. Daher sollte man bedenken – mit einer positiven oder negativen Betonung: Die „Fremden“, von denen gesagt wird, dass „sie ihre Kultur hierher gebracht haben“, sind keine einheitliche Masse, sie tragen die verschiedenen Farben der Gesellschaften, aus denen sie hierher gekommen sind.

Ausrichtung an westlichen Standards

Die Türkei schaut seit 150 Jahren nach Europa und läuft in Richtung Westen. Auf diesem Weg hat sie, angefangen bei der Mode bis hin zur Musik, die sie hört, von den Buchstaben ihres Alphabets bis zu ihrem Bürgerlichen Gesetzbuch, fast alles an westlichen Standards ausgerichtet. Indes hat natürlich der Fußabdruck derjenigen diese Veränderungen begleitet, die sagen: „Warum kleiden wir uns nicht mehr wie früher, warum hören wir unsere alte Musik nicht mehr.“

Das Land teilte sich zwischen denen, die die Verwestlichung als Beginn eines wirklichen Fortschritts verstanden, und denen, die sie als Beginn seines Untergangs sahen. Als die Verwestlichung aus einem kulturellen Zwang bestand und kein Aufstieg war, der auf einer neu geschaffenen wirtschaftlichen Infrastruktur aufgebaut wurde, verlangsamte sich der Weg in den Westen.

Zu dieser Zeit hatte Europa seine Türen für alle Unterschiede geschlossen, an seine Grenzen neue Mauern gebaut, verwandelte sich die Europäische Union von einem Bündnis für Zivilisation zu einem Club der Christen. Dies stärkte die ablehnende Haltung in der Welt gegenüber dem Westen. Es verbreitetet sich die Idee, dass es einen „Kampf der Zivilisationen“ oder sogar einen „Kampf der Religionen“ gebe. Rüstungen wurden angezogen; Träume vom alten Kaiserreich kamen zurück. Diejenigen, die die Türkei als ein Land mit „westlichen“ Werten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichstellung der Geschlechter, laizistisch, modern sahen, wurden ausgegrenzt.

Ein fanatisches Denken, das nicht das reiche kulturelle Gewebe des Landes, sondern seine ethnischen und religiösen Wurzeln, also Türkentum und Islam, in den Vordergrund stellt und die Lösung in Rückzug, Autorität und Uniformismus sieht, kam an die Macht. Tausende Menschen wie ich sahen sich gezwungen, unser Land zu verlassen. Mit einer großen Talentabwanderung sind wir in Europa gelandet.

Fragwürdige Lösung Autorität

Was glauben Sie, was wir gefunden haben: Nein, nicht ein Europa, das seine eigenen Werte fest umarmt hat; sondern ein Europa, das den Fokus auf seine ethnischen und religiösen Wurzeln legt; das vor dem Problem des Multikulturellen steht, die Lösung aber in mehr Autorität sieht.

In unserem Land waren wir „Fremde“; auch das hier ist uns „fremd“ geworden. Deutschland ist ein Einwanderungsland ... Berlin ist eine Einwanderungsstadt ... Seine Kraft, sein fortschrittliches Denken, seinen Reichtum, seine Jugend, sein „Sexysein“ hat es auch der Energie und Buntheit dieser kulturellen Vielfalt zu verdanken. Aber es zeigt sich, dass es nicht wenige gibt, die in Europa diese Buntheit als Chaos sehen.

So gibt es immer mehr, die glauben, dass die EinwanderInnen das kulturelle Gefüge des Landes, in dem sie neu sind, seine Sprache, seine Lebensweise stören. Die Angst vor Konflikten bringt negative Gefühle gegen die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft hervor. Diese Angst trägt zu einer erhöhten Ablehnung von EinwanderInnen bei.

So wie Trump in den USA diese Angst über die Dauer seiner Amtszeit geschickt auszunutzen wusste, scheint sie auch für die Zukunft Europas Auswirkungen zu haben. Viele Regierungen in Europa sind sich dieser Tendenzen bewusst ... Jedoch nutzen sie ihre Energien nicht, um sie abzubauen, sondern um die Einwanderung zu stoppen. Sie kümmern sich also nicht um die Ursachen des Problems, sondern um seine Folgen. Sie haben einige Lösungsvorschläge dazu.

Der erste Lösungsvorschlag ist ... Assimiliation, verbunden mit dem Bestreben, so viele EinwanderInnen wie nur möglich dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen sind... Das multikulturelle Mosaik, das die noch hier Gebliebenen schaffen, mit Beton zuzuschütten – zu versuchen, eine homogene Kultur zu schaffen, wie es bei der Gründung vieler Nationalstaaten war... Die Minderheit in der Mehrheit aufzulösen, zu einer Monokultur zu streben...

Geister vom Dachboden

Dies ist eine bekannte Methode. Staaten haben sie einige Zeit mit Druck eingesetzt, sie aber nicht dauerhaft durchsetzen können. Die unterdrückten Kulturen sind wie Geister, die sich im Dachboden versteckt hatten, in dieser Zeit ziemlich deformiert wurden und jetzt wieder am kulturellen Leben teilnehmen.

Ein weiterer Lösungsvorschlag ist Integration ... Dieser Begriff, der sich weigert, alt zu werden, erinnert an eine Reihe von politischen Maßnahmen, die oft angewendet werden, aber nicht die erwarteten Ergebnisse liefern. Denn die von oben herab blickende Haltung in dem Wort Integration, der hierarchische Ton, die dominante Sprache, dienen nicht der Begegnung, sondern der Trennung. Es öffnet sich der Weg zu Isolation, Polarisierung, Marginalisierung und Ghettoisierung.

Da der Zwang zur Monokultur und die Integrationspolitik nicht die erwarteten Ergebnisse geliefert haben, bleibt nur ein Weg ... Multikulturalismus, also die Anerkennung kultureller Vielfalt. Der Wunsch, dass die Gleichheit aller BürgerInnen gewährleistet wird ... Dass die Bedingungen für ein kulturelles Miteinander geschaffen werden ... Dass ein neuer Gesellschaftsvertrag entsteht, der Staatsbürgerschaft egalitär definiert, mit dem eine pluralistisch nationale Identität geschaffen wird ... Dass das Wort „Fremder“ abgelegt wird, ohne den „Fremden“ zu zwingen, ein „Einheimischer“ zu werden, ihn mit seinen Unterschieden zu akzeptieren; dass die Unterschiede in Reichtum umgewandelt werden ... Dass das neue Europa mit dieser Wirklichkeit neu gebaut wird...

Zielscheibe Multikulturalismus

Ich höre Kritik: Dass Einwanderungsfamilien viel höhere Geburtenraten haben, dass jüngere Generationen, die sich nicht anpassen können, zur Gewalt neigen, dass gemeinsame Regeln nicht beachtet werden, besorgt viele. Multikulturalismus wird zur Zielscheibe: Sie sagen, dass die Betonung der Unterschiede genau das Gegenteil bewirke und nicht den Frieden fördere, sondern die Gesellschaft weiter atomisiere, dass es den Weg ebne, EinwanderInnen noch mehr auszugrenzen. Sie fordern, dass man, anstatt die kulturellen Unterschiede zu bewahren, diese aufheben müsse, dass dies auch den EinwanderInnen die Tür zur Gleichberechtigung öffne.

Diejenigen, die diese Ansicht vertreten, organisieren sich in den neuen rechten Parteien. Dass sie Zuspruch erlangen, schiebt die zentralen Parteien ebenfalls an diesem Abgrund. Um das Problem zu lösen, braucht es eine öffentlichen Verwaltung, die aufmerksam, partizipativ und demokratisch ist. Einen gemeinsamen Nenner finden, bevor die BürgerInnen in eine übergeordnete Kultur eingesperrt werden – darum geht. Um Interaktion statt Zwang ... Vermischung statt Distanz ... Eine Metamorphose, die aus gegenseitiger Berührung entsteht... Ein Ansatz, der Unterschiede anerkennt und Zusammenleben ermöglicht.

Es gibt vieles, was man ökonomisch, politisch, gesellschaftlich oder im Bereich der Bildung machen kann, um dies zu unterstützen. An dieser Stelle möchte ich genauer auf das schauen, was die Kultur dazu beitragen kann. Jeder und jede hat hier eine Verantwortung. Ich würde diese Aufgabe mit der Übersetzung von Märchen beginnen. Stellen Sie sich vor, Kinder, die aus der Türkei oder anderen Ländern nach Deutschland kommen, hören hier deutsche Märchen, deutsche Kinder schlafen mit türkischen Märchen ein; würden ihnen nicht, wenn sie groß sind, diese Kulturen viel vertrauter sein?

Der Reichtum im Gemeinsamen

Verlage sollten AutorInnen anderer Kulturen übersetzen, Schulen sollten diese Bücher empfehlen und somit zu dieser Aufgabe beitragen ... MusikerInnen verschiedener Geografien sollten zusammenkommen und zeigen, was für einen Reichtum sie schaffen können ... Konzertsäle und Bühnen sollten ihnen Vorrang geben ... Galerien sollten die bunten Gebilde vieler Kulturen an ihre Wände hängen ... Auf den Theaterbühnen sollten Werke gefördert werden, die das gegenseitige Verständnis der Kulturen spüren lassen ...

Das Gastgeberland sollte die Zeitungen seines Landes, das Fernsehen, die Buchseiten, die Bildschirme seinen neuen BürgerInnen noch weiter öffnen; auf diesen Seiten, Bildschirmen sollten Ansichten vorgelebt werden, die Vorurteile brechen.

Das europäische Kino, das hinter der Dominanz von Hollywood und Netflix steht, sollte seine Vorhänge öffnen und auf seine Leinwände und Bildschirme gemeinsame Projekte bringen, die den Reichtum der vielen Kulturen zeigen...

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Es ist bewundernswert, dass in Deutschland der Bau von neuen Moscheen für Muslime gefördert wird. Doch sollte nicht vergessen werden, dass die Menschen mehr noch als Moscheen Kulturzentren brauchen ... Isolation sollte gebrochen, Empathie entwickelt werden – von den ModedesignerInnen bis zu den KöchInnen, von den EntwicklerInnen von Computerspielen bis zu den DokumentarfilmemacherInnen: Jede und jeder, der/die im kreativen Bereich tätig ist, hat eine Verantwortung.

Diese Anstrengung kann zeigen, dass eine Entwicklung, die wie ein Problem wirkt, eigentlich eine Chance ist, dass Unterschiede die Erde nicht verwüsten, sondern ganz im Gegenteil: bereichern. Sie kann die Ängste in der Gesellschaft auffangen; die politische Einkapselung in ein Sich-nach-außen-Öffnen wenden. Sie kann ein ganz buntes Europa gemischter Identitäten und vieler Stimmen schaffen.

Can Dündar

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