Abschuss durch Rakete vermutet: USA und Iran untersuchen Flugzeugabsturz gemeinsam
Nach Ansicht der USA und Kanadas wurde das bei Teheran abgestürzte Flugzeug abgeschossen – womöglich unabsichtlich. Der Iran fordert klare Beweise.
Nach dem Absturz eines ukrainischen Passagierflugzeugs bei Teheran gehen Kanada und die USA von einem Abschuss der Maschine durch eine iranische Rakete aus. Eine internationale Untersuchung soll nun Aufklärung darüber bringen. Der Iran will daran neben Experten aus der Ukraine auch Boeing-Fachleute aus den USA, Kanada und Frankreich beteiligen. Das gab der Leiter der iranischen Luftfahrtbehörde, Ali Abedsadeh, am Donnerstagabend im iranischen Fernsehen bekannt.
Die US-Verkehrssicherheitsbehörde NTSB teilte am Donnerstag (Ortszeit) mit, sie werde dieser Einladung nachkommen. Ein Sprecher von Boeing sagte auf Anfrage, das Unternehmen würde die Behörde unterstützen, wenn es eine Einladung gäbe.
„Wir haben Informationen von mehreren Quellen von unseren Alliierten und eigene Informationen. Diese Informationen deuten darauf hin, dass das Flugzeug von einer iranischen Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde“, sagte Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau am Donnerstag in einer TV-Ansprache. Dies könne durchaus versehentlich geschehen sein. Bei dem Absturz waren am Mittwoch 176 Menschen ums Leben gekommen – darunter 63 Kanadier.
„Die Nachricht ist zweifellos ein weiterer Schock für die Familien (der Opfer), die angesichts dieser unbeschreiblichen Tragödie bereits trauern“, sagte Trudeau und wiederholte seine Forderung nach einer umfassenden internationalen Untersuchung. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass der Iran internationale Experten über die Ukraine hinaus hinzuziehen will.
„Die Familien der Opfer und alle Kanadier wollen Antworten. Ich will Antworten.“ Der Premier ging auf Nachfrage nicht darauf ein, welche Informationen genau die kanadische Regierung habe. Die Beweise seien jedoch „sehr klar“.
„New York Times“ zeigt Video von mutmaßlichem Abschuss
Auch US-Regierungsvertreter sagten am Donnerstag unter Berufung auf Satellitenbilder, die US-Regierung sei sich nun sicher, dass die Boeing durch eine iranische Rakete abgeschossen worden sei. Es habe sich sehr wahrscheinlich um ein Versehen der iranischen Luftabwehr gehandelt.
Aus Sicherheitskreisen hieß es ebenfalls, die USA prüften die Möglichkeit, dass die Boeing 737 versehentlich abgeschossen wurde. Das US-Verteidigungsministerium lehnte eine Stellungnahme ab.
Der britische Premierminister Boris Johnson sprach einer Mitteilung von Donnerstagabend zufolge von einem „Korpus an Informationen“, der auf einen Abschuss durch eine iranische Rakete hinweise. „Wir arbeiten eng mit Kanada und unseren internationalen Partnern zusammen und es bedarf einer vollständigen und transparenten Untersuchung“, so Johnson.
Die „New York Times“ veröffentlichte ein Video, das den Abschuss des Flugzeugs wenige Minuten nach dem Start in Teheran zeigen soll. Die Zeitung gab an, die Echtheit der Aufnahmen verifiziert zu haben. Demnach ist eine kleine Explosion zu sehen, als eine Rakete das Flugzeug trifft. Die Maschine fliegt dennoch weiter und dreht zurück in Richtung Flughafen, bereits in Flammen stehend, bevor sie explodiert und abstürzt.
Trump glaubt nicht an technischen Fehler
US-Präsident Donald Trump heizte Mutmaßungen über die Absturzursache der Maschine unterdessen an. „Ich habe meinen Verdacht“, sagte Trump am Donnerstag im Weißen Haus. „Ich will das nicht sagen, weil andere Menschen auch diesen Verdacht haben. Es ist eine tragische Angelegenheit.“ Trump sagte weiter: „Jemand könnte einen Fehler gemacht haben.“ Einige Menschen vermuteten, dass es einen mechanischen Fehler gegeben haben könnte. Er persönlich glaube, das stehe nicht zur Debatte. Auf die Frage, ob die Maschine aus Versehen abgeschossen worden sein könnte, sagte er allerdings: „Das weiß ich wirklich nicht.“
Iran geht weiter von technischem Defekt aus
Die iranische Luftfahrtbehörde wies die Vermutungen zu einem irrtümlichen Abschuss zurück. „Wissenschaftlich gesehen ist es unmöglich, dass eine Rakete die ukrainische Maschine getroffen hat, deshalb sind solche Gerüchte unlogisch“, zitierte die iranische Nachrichtenagentur Irna am Donnerstag den Behörden-Chef Ali Abedzadeh. In einer Stellungnahme am Freitag äußerte er sich skeptisch über die Aufnahmen, die den Abschuss belegen sollen. Die Echtheit könne nicht verifiziert werden.
Abedsadeh forderte die USA und Kanada auf, ihre Informationen über einen möglichen Abschuss der ukrainischen Maschine an die Internationale Zivilluftfahrtorganisation ICAO zu übergeben. Bevor Schlussfolgerungen gezogen würden, müssten erst die Fakten geklärt werden, sagte der iranische Behördenchef weiter. Jeder müsse vorsichtig sein, wenn solche Angaben von Politikern verbreitet würden.
Der Iran geht von einer technischen Ursache aus. „Wegen eines technischen Defekts hat die Maschine Feuer gefangen, und dies führte zum Absturz“, sagte Verkehrs- und Transportminister Mohammed Eslami der Nachrichtenagentur Isna.
Iran: Maschine versuchte, zum Flughafen zurückzukehren
Irans Präsident Hassan Ruhani sagte Angaben des Präsidialamtes zufolge in einem Telefonat mit seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj, Expertenteams beider Länder sollten die genaue Absturzursache gründlich untersuchen.
Die Ermittler wollen nun den kurzen Flug rekonstruieren. In einem am Donnerstag veröffentlichten vorläufigen Bericht der iranischen Luftfahrtbehörde heißt es, die Maschine habe versucht, zurück zum Flughafen zu fliegen. Augenzeugen hätten berichtet, die Maschine habe gebrannt. Als sie am Boden aufschlug, sei sie explodiert - wohl weil das Flugzeug große Mengen Kerosin getankt hatte.
Die Experten erhoffen sich mehr Informationen durch die Auswertung der beiden Blackboxen mit den Flugdaten. Die Boxen enthalten die Flugdatenschreiber und einen Stimmenrekorder mit Aufnahmen der Gespräche im Cockpit. Diese sollten nach gründlichen Untersuchungen an die Ukraine übergeben werden, kündigte die Luftfahrtbehörde an. Die Geräte seien aber beschädigt worden. Kurz vor dem Absturz habe auch kein Funkkontakt mehr zu den Piloten bestanden.
Tag der Trauer in der Ukraine
Kiew zieht vier Versionen in Betracht: Alexej Danilow vom ukrainischen Sicherheitsrat schrieb auf Facebook, es sei möglich, dass die Maschine von einer Rakete des russischen Typs „Tor“ getroffen worden sei. Deshalb seien Experten an der Untersuchung beteiligt, die bereits 2014 beim Abschuss des malaysischen Fluges MH17 durch eine Flugabwehrrakete über der Ostukraine ermittelt hätten. Geprüft werden auch ein Zusammenstoß mit einem Flugobjekt wie etwa einer Drohne, ein Triebwerksschaden und ein Terroranschlag.
Die Ukrainer gedachten am Donnerstag der 176 Todesopfer. Präsident Wolodymyr Selenskyj rief einen Tag der Trauer aus. Die Fahnen wehten auf halbmast. In den Fernsehprogrammen und im Radio sollte auf Unterhaltungsformate verzichtet werden. Am Kiewer Flughafen Boryspil legten viele Menschen Blumen nieder. Dort hätte die Maschine eigentlich am Mittwochmorgen gegen 8 Uhr Ortszeit landen sollen.
Lufthansa lässt Flug nach Teheran vorsorglich umkehren
Aufgrund des Konflikts im Nahen Osten sollen Flüge im irakischen Luftraum aus Sicht der europäischen Flugaufsicht (EASA) vermieden werden. Das sei eine Schutzmaßnahme, teilte die EASA auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Zudem haben den Angaben der EASA zufolge bereits manche europäischen Fluggesellschaften ihre Routen angepasst.
Die Lufthansa hat ein Flugzeug auf dem Weg in die iranische Hauptstadt Teheran umkehren lassen. Grund sei eine veränderte Einschätzung der Sicherheitslage für den Luftraum um den Flughafen Teheran, sagte ein Sprecher am Donnerstagabend. Das Flugzeug mit der Flugnummer LH 600 befinde sich auf dem Rückweg, sagte der Sprecher um kurz vor 20 Uhr. Die Maßnahme sei rein vorsorglich.
Auch der Lufthansa-Flug von und nach Teheran am Freitag wurde gestrichen, wie das Unternehmen weiter mitteilte. „Sobald uns Detailinformationen vorliegen, werden wir entscheiden, ob bzw. ab wann unsere Iran-Flüge wieder durchgeführt werden können“, hieß es. Die Sicherheit für Mitarbeiter und Passagiere habe oberste Priorität. (dpa, Reuters, AFP)