Kampf gegen den "Islamischen Staat": USA: Luftschläge können Kobane nicht retten
Die Schlacht um die Grenzstadt Kobane steht auf Messers Schneide. Die Berichte sind widersprüchlich. Die USA gehen indes nicht davon aus, dass Luftangriffe ausreichen, um den Vormarsch der IS-Terrormiliz aufzuhalten.
Die Lage in der von der Terrormiliz Islamischer Staat eingekesselten Stadt Kobane in Nordsyrien wird immer unübersichtlicher. Zunächst war am Mittwoch von einem Teilrückzug der Dschihadisten aus der Stadt berichtet worden.
Augenzeugen sagten aber, es gebe weiter heftige Gefechte auch innerhalb des strategisch wichtigen Grenzortes. Nach mehreren neuen Luftangriffen der internationalen Koalition auf IS-Stellungen seien die Kämpfe in der Stadt jeweils einige Stunden abgeflaut, um danach mit alter Heftigkeit fortgesetzt zu werden, berichtete ein dpa-Korrespondent von der Grenze.
Nach Ansicht des Pentagons sind Luftanschläge nicht genug, um die Terrormiliz in die Flucht zu schlagen und die Stadt Kobane zu retten. Die Angriffe hätten in und um die an der syrisch-türkischen Grenze gelegene Stadt zwar durchaus gewirkt, sagte Pentagonsprecher John Kirby am Mittwoch. „IS besitzt Kobane derzeit nicht.“ Möglicherweise habe sich ein Drittel der Kämpfer zurückgezogen - auch wegen des militärischen Drucks, den die USA und ihre Verbündeten aus der Luft ausgeübt hätten. Dennoch warnte Kirby, dass Luftangriffe allein nicht ausreichten, um die Belagerung Kobanes zu stoppen. Ein Grund dafür sei, dass es noch keinen „gewillten, fähigen, effektiven Partner“ gebe, der das internationale Bündnis unterstützen könnte. „Es ist einfach ein Fakt. Ich kann das nicht ändern.“
Vertreter der kurdischen Verteidiger von Kobane erklärten am Mittwoch, die IS-Kämpfer hätten sich aus zwei Dörfern vor der Stadt zurückgezogen. Damit wurden die Dschihadisten aus dem unmittelbaren Stadtgebiet zurückgedrängt. Die Weigerung der türkischen Regierung, den Kurden in Kobane zu helfen, löste in mehreren Städten der Türkei schwere Unruhen aus, bei denen 19 Menschen starben.
"Sie sind nun vor den Toren der Stadt Kobane“, sagte der stellvertretende Außenminister des gleichnamigen Bezirks, Idris Nassan, am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. Der Beschuss und das Bombardement seien sehr wirkungsvoll gewesen und hätten die Kämpfer des IS dazu veranlasst, viele Positionen zu räumen. "Das ist ihr größter Rückzug seit sie in die Stadt eingedrungen sind", sagte Nassan. "Wir können davon ausgehen, dass das der Beginn ihres Rückzuges aus der Region ist", sagte der kurdische Politiker.
Andere kurdische Kämpfer beschreiben die Lage in Kobane als dramatisch und militärisch weniger eindeutig. "Die Situation ist schlechter, als die Menschen denken", sagte ein Kämpfer der Volksschutzeinheiten, der aus Kobane über die Grenze in die Türkei kam, am Mittwoch der Nachrichtenagentur dpa in Suruc. "Viele sind ernsthaft verletzt und noch immer drinnen (in Kobane). Es war nicht möglich, sie raus zu bringen. IS ist sogar noch näher gekommen." Der Kämpfer wollte nicht namentlich genannt werden. Ein kurdischer Aktivist namens Farhad al Shami in Kobane sagte der dpa am Telefon, die Kämpfe konzentrierten sich auf den Osten der Stadt. "IS-Kämpfer haben eine groß angelegte Offensive begonnen, um den gesamten Bezirk Kani Araban unter ihre Kontrolle zu bringen", sagte er.
Der kurdische Aktivist und Journalist Mustapha Ebdi berichtete am Mittwoch bei Facebook, die Straßen des Maktala-Viertels im Südosten Kobanes seien "voller Leichen" von IS-Kämpfern. Er warnte, die humanitäre Lage für die hunderten in der Stadt verbliebenen Zivilisten sei sehr schwierig.
"Gegenoffensive" der Kurden
Die kurdische Nachrichtenseite Welati vermeldete am Mittwoch, dass internationale Luftschläge sowie die kurdische Gegenwehr die sunnitischen IS-Extremisten zum Rückzug an den östlichen Stadtrand gezwungen hätten. Ein Sprecher der kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) sprach auf dpa-Anfrage von einer "Gegenoffensive" der Kurden.
Erst am Montag hatten IS-Kämpfer ihre schwarze Flagge am östlichen Rand der seit drei Wochen heftig umkämpften Stadt gehisst. Seither haben die USA und ihre arabischen Verbündeten ihre Luftangriffe auf Stellungen der Extremisten verdoppelt. Militärexperten sind allerdings überzeugt, dass die Miliz, die weite Teile Syriens und des Iraks unter ihre Kontrolle gebracht hat, mit Luftangriffen allein nicht zu besiegen ist.
Seit Dienstag hatten die USA sowie ihre europäischen und arabischen Verbündeten in der Allianz gegen den IS die Luftangriffe in Kobane deutlich verstärkt. Nicht nur die erhöhte Zahl der Luftschläge, die auch am Mittwoch fortgesetzt wurden, zeigte Wirkung: Nach kurdischen Angaben kommunizieren die Verteidiger der Stadt jetzt direkt mit den Alliierten, sodass die Luftangriffe auf die IS-Positionen vor der Stadt mit großer Genauigkeit gelenkt werden können. Vor Beginn der neuen Welle von Luftangriffen waren die IS-Kämpfer zeitweise bis in Teile des Zentrums von Kobane vorgedrungen.
Ob die Luftschläge den IS dazu bringen können, den Angriff auf Kobane ganz abzubrechen, war am Mittwoch nicht klar. Für die Dschihadisten ist Kobane bedeutsam, weil eine Einnahme der Stadt ihnen die ungehinderte Kontrolle über ein großes Gebiet in Nordsyrien sichern würde. Die Kurden betrachten Kobane als Kern ihrer im Schatten des syrischen Bürgerkrieges errichteten Selbstverwaltung in Nordsyrien.
Als direkte Nachbarin des Kampfgebietes um Kobane hatte die Türkei den Kurden zwar Hilfe zugesagt; bisher sind aber leidiglich medizinische Hilfsgüter von der Türkei aus über die Grenze in die belagerte Stadt gelangt. Die Kurden verlangen Waffenlieferungen und Nachschub von Kämpfern aus anderen Kurdenregionen Syriens, die über die Türkei in die Stadt gebracht werden müssten. Das lehnt Ankara bisher aber ab, auch weil die Kurden in Kobane von einem Ableger der Rebellenorganisation PKK geführt werden.
Die Haltung der türkischen Regierung löste in den kurdischen Gebieten des Landes, aber auch in Istanbul, Ankara und Izmir schwere Krawalle aus. Nach Angaben der Behörden wurden 19 Menschen erschossen – davon einige bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der PKK und militanten Islamisten, die für den IS Partei ergriffen. Die Behörden erließen Ausgangssperren in sechs Provinzen. Dennoch flammten die Auseinandersetzungen am Mittwoch erneut auf.
Obama trifft Militärvertreter im Pentagon
Die türkische Position steht auch im Mittelpunkt eines Besuchs des neuen Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg an diesem Donnerstag und Freitag in Ankara. Kurz vor der Visite des Nato-Chefs signalisierte Frankreich als erstes Land der Allianz seine Unterstützung für das türkische Vorhaben, auf syrischem Boden mehrere Pufferzonen zu errichten, in denen Bürgerkriegsflüchtlinge versorgt werden könnten.
US-Präsident Barack Obama traf sich am Mittwochnachmittag mit führenden Militärvertretern zu Beratungen im Pentagon. Die USA fliegen seit Anfang August Luftangriffe auf IS-Stellungen im Irak und dehnten den Einsatz am 23. September auf Syrien aus. Nach Angaben des für den Nahen Osten zuständigen US-Militärkommandos Centcom griffen Kampfflugzeuge und Drohnen am Dienstag und Mittwoch auch fünf IS-Ziele im Irak an. Unter anderem wurden irakischen Regierungstruppen westlich von Bagdad bei ihrem Kampf gegen die Dschihadisten unterstützt.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, der Westen habe noch keine wirksame Strategie für einen Sieg über den IS und eine Beendigung des syrischen Bürgerkrieges gefunden. "Wir müssen bekennen, dass wir das geeignete Mittel noch nicht gefunden haben, um den lang andauernden Krieg und Bürgerkrieg in Syrien einem Ende zuzuführen."
Claudia Roth: Erdogan will die Kurden schwächen
Die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth äußerte scharfe Kritik an der Politik der Türkei gegenüber der Dschihadistengruppe "Islamischer Staat". "Ich habe überhaupt kein Verständnis für die Politik der Türkei", sagte Roth am Mittwoch im ARD-Morgenmagazin. Ankara betreibe eine "uneindeutige Politik" gegenüber den Dschihadisten, die sogar Waffen aus der Türkei erhielten. Ganz offensichtlich wolle der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan "die Kurden schwächen in ihrer Selbstständigkeit", indem er die Dschihadisten gewähren lasse, kritisierte die Bundestagsvizepräsidentin. Roth forderte eine deutliche Verstärkung der humanitären Hilfe für die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak in der Türkei. Es sei nicht akzeptabel, dass die Welt der "Tragödie" in Syrien tatenlos zuschaue. Etwa 200.000 Menschen flohen bislang allein aus der Region um Kobane über die Grenze in die Türkei. Insgesamt nahm das Land etwa 1,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf, was im Land vermehrt zu Spannungen führt.
Die syrischen Kurden bitten die internationale Gemeinschaft eindringlich um schwere Waffen zur Verteidigung der Stadt Kobane. "Jeder sagt 'wir stehen Euch bei'", sagte der Ko-Präsident der syrischen Kurden-Partei YPG, Salih Muslim, der türkischen Zeitung "Hürriyet Daily News". Kein Land unternehme dafür aber konkrete Schritte. "Wir wollen panzerbrechende Waffen." Muslim forderte von der Türkei einen Korridor für Kämpfer der Volksschutzeinheiten, die in Enklaven östlich und westlich der vom IS umstellten Stadt Kobane einsatzbereit seien. "Unsere bewaffneten Kämpfer in Afrin und Cizre warten darauf, sich den Kämpfern in Kobane anzuschließen. Aber wir müssen türkisches Territorium nutzen, um diese Kämpfer nach Kobane zu bringen." Muslim sagte, bei einem Treffen mit Vertretern der Regierung in Ankara hätten diese ihm unter anderem eine Passage der Kämpfer über die Türkei in Aussicht gestellt. Bislang sei aber nichts geschehen. Die Regierungsvertreter hätten ihm Beistand für Kobane zugesagt und versichert, die Türkei sehe den IS als Terrororganisation. (mit rtrt/AFP/dpa)