Steinbrücks Kompetenzteam: Unterwegs mit Yasemin Karakasoglu
Der Döner verfolgt sie auf ihrer Wahlkampftour. Dabei hätte Yasemin Karakasoglu viel mehr Appetit auf ein Krabbenbrötchen. Die Professorin ist im Schattenkabinett von Peer Steinbrück, nicht etwa zuständig für Integration, sondern für Bildung und Wissenschaft. Sie selbst sagt: Das ist mutig. Ein Reisebericht.
Das Verlangen der Politik nach Zuspitzung drückt sich im Willy-Brandt-Haus auch baulich aus. In dessen äußerster, gläserner Spitze im zweiten Stock empfängt Yasemin Karakasoglu, bekannt für ihren Einsatz im sogenannten „Kopftuchstreit“ als Gutachterin beim Bundesverfassungsgericht, Turkologin und Erziehungswissenschaftlerin, Konrektorin an der Uni Bremen, nun aber in Peer Steinbrücks Kompetenzteam zuständig für Bildung und Wissenschaft.
Es ist Wahlkampf. Es ist das „Was-wäre-wenn-Spiel“ mit der Presse, das bis zur Wahl alle tapfer spielen und in dem Peer Steinbrück Bundeskanzler wäre. Sie wäre die Bundesbildungsministerin. Und dies wäre ihr Programm:
Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen. Mehr Geld für Hochschulen. Sie ist für die soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems und dafür, die gerade eingeführte Herdprämie in Schulen zu investieren.
„Werden Sie das bis zur Wahl noch zuspitzen?“ fragt ein Journalist. „Natürlich“, sagt sie. Und gesteht, als alle aus dem Raum sind, dass Vereinfachung für sie das Schwerste ist. Die Methode der Wissenschaft ist Differenzierung, die der Politik Zuspitzung. Jetzt steckt sie mitten in einem Wahlkampf, in dem Zuspitzungen „Kernthesen“, „Kante“ oder „Klartext“ heißen. Wo die Aussagen naturgemäß stetig vergröbern, je mehr Leute ihnen zustimmen sollen. Und dann hat auch noch der Spitzenkandidat diese Eigenschaft mit Unterhaltungswert zu seinem Markenzeichen gemacht.
„Schmerzhaft und wertvoll“ sei diese Erfahrung. „Aber Vereinfachungen sind das Nadelöhr, durch das man muss, wenn man viele Leute erreichen will.“ Was aber will sie erreichen? Wer ist Yasemin Karakasoglu? Was macht die Politik mit der Wissenschaftlerin und die Wissenschaftlerin mit der Politik? Und kann jemand wie sie aufrecht durch dieses Nadelöhr spazieren?
Man könne ja mitkommen und bei dem Versuch zuschauen. Gleich morgen. Es sei einer dieser Tage, gepackt voll mit Terminen, gewissermaßen ein Roadmovie mit ihr in der Hauptrolle. Die Schauplätze reichen vom Wasser- und Schifffahrtsamt in Cuxhaven bis zum Wahlkampfauftakt in Hamburg mit Peer Steinbrück.
Sie hat sich entschieden, diesen Tag in einem Kleid in den Verlaufsfarben der SPD-Wahlplakate zu bestreiten. Es herrscht das strahlende Grau des Nordens, in dem bei bedecktem Himmel die Dinge selbst zu leuchten scheinen. Im Hof des Wasser- und Schifffahrtsamts Cuxhaven liegen bunte Tonnen. Der Wind bläst von der Nordsee. Frisuren spielen keine Rolle.
Offiziell unterstützt Karakasoglu heute den örtlichen SPD-Kandidaten Gunnar Wegener auf seiner Wahlkampftour. Zugleich aber will sie ihr Thema Bildung um die Facette Seefahrt erweitern und sich selbst vorstellen. Ihr Projekt „Spuren hinterlassen“ läuft. „Egal, wie die Wahl im September ausgeht.“
Und weil ihr an Überblick gelegen ist, lässt sie sich im Wasser- und Schifffahrtsamt die Verkehrszentrale zeigen, wo die Lotsen vor ihren Radarschirmen sitzen und den gesamten Küstenstreifen mit Elbmündung und Weser überwachen. Bevor es weitergeht.
„Es riecht nach Wissen!“, ruft Karakasoglu, als sie die Bibliothek der Staatlichen Seefahrtschule Cuxhaven betritt. Der aufgekratzte Leiter, Rudolf Rothe, bringt ein Tablett mit Kaffee. Man ist sich einig, dass das Bildungsystem durchlässiger werden muss, man auch später im Leben wieder einsteigen können müsse, auch seitwärts. „Bei manchen platzt der Knoten spät“, sagt Rothe.
Dann erzählt er von einer Stiftung, die Gelder bereitstellt, damit Anwärter die dreijährige Praxis, die sie für ihr Kapitänspatent brauchen, auch „ausfahren“ können, und nicht international von billigeren Arbeitern verdrängt werden. Karakasoglu bringt ein, dass eine Ausbildung, gerade in diesem Beruf, am besten schon von Anfang an international angelegt wäre. Wie wäre es denn mit Stipendien für ausländische Studenten, die hier für die Seeberufe ausgebildet werden wollen, sich aber bislang die Lebenshaltungskosten im Land nicht leisten können?
Karakasoglu wirbt nicht. Sie fragt. Sie verknüpft die Anliegen der Leute mit ihren Erfahrungen. Vergleicht. Präzisiert. Sucht Anschlusspunkte zu ihren Themen. Ihr Interesse wirkt echt.
Yasemin Karakasoglu werfen sich die Döner geradezu in den Weg
Sie hätte jetzt nichts gegen ein Krabbenbrötchen, ans Essen hat in der Tagesplanung niemand gedacht, aber es ist keines in Reichweite. „Am Bahnhof gibt es noch einen Döner“, schlägt Gunnar Wegener vor. Das ist von dem Wahlkampfkandidaten gar nicht böse gemeint. Es ist überhaupt nicht gemeint. Es verweist allein darauf, dass in deutschen Bahnhofsgegenden recht zuverlässig Döner zu finden sind. „Och nee“, sagt Karakasoglu, „Döner hatte ich gestern.“
Aber vor einer Pause steht noch ein Besuch bei den „Cuxhavener Nachrichten“ an. Die frische Information aus der Seefahrtschule wird gleich verwertet. Karakasoglu hat etwas übrig für steile Lernkurven. Gerade habe sie mit dem Leiter der Seefahrtschule gesprochen, sagt sie, über die Ausbildung von Seeleuten und die Verantwortung der Reeder. Es gebe da diese neue Stiftung für Kapitänsnachwuchs, von der kaum einer wisse.
„Das ist ja interessant“, sagt der Chefredakteur angefixt. „Sie haben schon darüber berichtet, am letzten Wochenende“, sagt Wegener schnell und hält eine Zeitungsseite hoch.
Ach so, na dann.
Es ist nicht mehr viel Zeit, bis der Zug fährt. „Da hinten ist der Döner“, sagt Wegener kurz vor dem Bahnhof. Es ist natürlich ungeheuer heiter bis tragisch, dass der türkisch-deutschen Integrationsforscherin wiederholt dieses Essen angeboten wird. Die Döner scheinen sich ihr geradezu in den Weg zu werfen. Weil es dann wohl einfach so sein soll, entert sie halt die Bude, bestellt Börek und Ayran auf Türkisch, die Gesichter der Verkäufer werden freundlich und weich.
Wenn sie jetzt nicht gleich zum Zug nach Hamburg müsste, würde sie das machen, was sie ihren „Taxiwahlkampf“ nennt. Sie fragt, ob ihr Gegenüber die deutsche Staatsangehörigkeit hat und redet so lange, bis die Leute sich erkundigen, wo man sie wählen kann. Dann erklärt sie das deutsche Wahlsystem – „das ist ja erstaunlich unbekannt“ – und dass, wer sie haben wolle, die SPD wählen müsse. Na, sagen die darauf meist, wenn’s nicht anders geht.
Die Fahrt von Cuxhaven nach Hamburg dauert eine Spielfilmlänge, 109 Minuten, und es bleiben folgende Bilder hängen, die Karakasoglu im Waggon der Regionalbahn ablaufen lässt:
Wie sie, „das Kind von der Küste“, mit Mann und ihren Kindern jeden Sommer segelt, sonnige Tage im Hängekleidchen, das heißt, er segelt und sie springt nach dem Ankern ins Wasser und vertäut das Schiff.
Man sieht sie als Studentin, die gerade euphorisiert eine brillante Fontane-Prüfung hingelegt hat. Und wie tief es sie trifft, als der Dozent sagt, dass sei die beste Prüfung gewesen, die je eine Türkin bei ihm abgelegt habe.
Wie sie für das Zentrum für Türkeistudien in Essen, für das sie fünf Jahre arbeitet, ihren Chef in Mailand auf einem Kongress vertritt und nach dem Thema ihrer eigenen Doktorarbeit gefragt wird. Na klar, denkt sie, promovieren kann ich natürlich auch.
Wie ihre Vermieterin in Essen sagt, sie werde ja hoffentlich nicht ihre ganze anatolische Familie mitbringen, aber ihre schönen Perserteppiche seien willkommen.
Wie sie als Sechsjährige ein Jahr in der Türkei lebt, Enkelin eines angesehenen Rechtsanwalts mit Hauspersonal und Fahrer. Wie sie dann nach Bremerhaven zurückkehrt in die Wohnung mit Second-Hand-Möbeln, wo sie einige Jahre in der abgelegten Kleidung ihrer Cousine verbringt.
Wie sie schließlich 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht erschauert, als die roten Roben sich erheben und sie ihr Gutachten vortragen muss, das auf ihrer Doktorarbeit fußt: Sie hatte die Motive erforscht, aus denen heraus junge Lehramtsanwärterinnen Kopftuch tragen und festgestellt, dass die ganz unterschiedlich waren. Deshalb ließe das Tuch sich ihrer Meinung nach auch nicht pauschal verbieten.
Sie musste nicht erst in die SPD eintreten, um Peer Steinbrück zu duzen
Ihr Anliegen ist nicht eine spezielle Meinung oder Position, sondern eine Methode, wie man zu einer Meinung gelangt: durch Differenzieren. Jeden Fall einzeln ansehen. Analysieren. Das Gericht fällt danach übrigens tatsächlich kein Pauschalurteil in Sachen Kopftuch. Es gibt die Sache an die Länder zurück, die im Einzelfall entscheiden sollen.
Es sind die Momente ihres Lebens, in denen sich etwas verdichtet und entscheidet. Als sie in Bremerhaven zur Schule ging, bestand das politische Interesse der Regierung Helmut Kohl noch darin, jeden zweiten Türken loszuwerden. Die Vorurteile eines ganzen Landes stecken in ihren Erfahrungen, aber auch der Stolz, sie persönlich überwunden zu haben. In ihren Erfahrungen liegt der Keim für Erfolg, aber auch diverse Zerrbilder sind zu sehen, die durch Vorurteile entstehen, in deren extrem gedachter Verlängerung es möglich ist, dass man die Morde Rechter an Ausländern am Ende als „Dönermorde“ bezeichnet.
Es ist natürlich unglaublich verführerisch, in der Politik mit Biografien zu argumentieren. Da ist die deutsche Mutter aus Wilhelmshaven, für die Bildung eine Schlüsselrolle spielt. Da ist der Moment, in dem man ihrem Vater, der für das VWL-Studium aus der Türkei nach Deutschland kam, nach Abgabe der Abschlussarbeit einfach sagt: Thema verfehlt. Grundsätzlich erschüttert arbeitete er fortan als Sozialberater.
Aber Karakasoglu, geboren vor 48 Jahren in Wilhelmshaven, an deren intellektuelles Potenzial nicht nur die Eltern der einzigen Tochter glaubten, sondern auch die Lehrerin in der Grundschule in Bremerhaven, musste vor neun Wochen nicht einmal mehr in die SPD eintreten, um Peer Steinbrück zu duzen. „Dinge werden an mich herangetragen“, sagt sie. „Das klingt kokett, nicht?“ Aber so sei es. Ihre Abenteuerlust könnte ein Grund sein, „Naivität vielleicht“. Bestimmt habe es mit einer gewissen Offenheit zu tun. Sie hat versucht, Roland Koch in Sachen Integration zu beraten. „Erfolglos, wie man gehört hat.“ 2010 hatte Hannelore Kraft sie gefragt, ob sie in NRW das Wissenschaftsministerium führen möchte. Aber das kam damals Knall auf Fall, sie war im Urlaub, es hätte innerhalb von drei Tagen über die Bühne gehen sollen. Sie fuhr hin, hatte ein langes Gespräch – und fuhr wieder zurück in den Urlaub. Gebauchpinselt, erschrocken. Von da an dachte sie anders über sich nach: „Welche Rolle spiele ich im Konzert von Wissenschaft und Politik? Wo sind meine gesellschaftlichen Aufgaben?“
Karakasoglu rechnet damit, dass ihre Ernennung ins Kompetenzteam die SPD auch Stimmen kosten wird. „Ich bin ein Stachel im Fleisch rechts Denkender“, sagt sie. Gelegentlich liest sie Feindseligkeiten in Blogs. Dass sie mit ihren zwei Staatsbürgerschaften jetzt nicht etwa für eine Nische, die Integration der Migranten, sondern für die Bildung aller zuständig sein soll, „das ist in Deutschland immer noch mutig“. Diesen Mut rechnet sie Steinbrück hoch an.
Otterndorf, Hechthausen, Himmelpforten, Buxtehude sind inzwischen draußen vorbeigeflogen. Variationen in Backstein. Karakasoglu wischt auf ihrem Smartphone herum, um herauszufinden, ob Aussagen aus ihrer Konferenz am Vortag es in die Presse geschafft haben. Leider hat es auch eine falsche Zahl geschafft. Die vier Milliarden Förderung für die Schulen – sie hätte acht sagen sollen. Da hat sie sich vertan. Und obwohl sie das ärgert, sieht sie doch beruhigt, das größeren Tieren größere Fehler unterlaufen.
Niemals wäre ihr Steinbrücks Fehler unterlaufen, zu behaupten, dass die Kanzlerin ihrer Herkunft wegen den Horizont Europas nicht fassen kann. Es ist ja gerade diese Verknüpfung von Herkunft und Leistung, gegen die Karakasoglu ihr ganzes Leben lang vorgegangen ist.
Aber jetzt eröffnet der Kanzlerkandidat den Hamburger Wahlkampf unter einem Riesenschirm im Freien. Er polemisiert gegen die Regierung. „In 45 Tagen sind wir die los.“ Er unterhält. Pointiert. Pauschalisiert. Manche schimpfen, viele lachen. Es scheint zu funktionieren. Unklar bleibt, ob es daran liegt, dass zu einer SPD-Veranstaltung meist SPD-Fans kommen. Dann stellt Steinbrück das Kompetenzteam vor und stolpert über Karakasoglus Namen.
Erschienen auf der Dritten Seite.