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Erdogan in Bedrängnis: Unruhen in Istanbul: Türkischer Frühling

Nichts wird bei uns mehr so sein wie zuvor, sagen die Leute am Sonntag. Nach den tagelangen Straßenschlachten und den brutalen Polizeieinsätzen musste die Regierung klein beigeben. Für Premier Erdogan ist es seine bisher größte Niederlage. Viele sprechen schon von einer neuen Ära.

Ein leichter Sommerregen geht auf den Taksim-Platz nieder, deshalb haben sich die Geschwister Cansu und Ceylan Kilic auf den überdachten Bänken einer Bushaltestelle niedergelassen. Die Schwestern sind an diesem Sonntagmorgen aus Ümraniye herübergekommen, aus dem asiatischen Teil Istanbuls, und nun warten sie darauf, dass sie bei der nächsten Demonstration gegen die Regierung auf dem Taksim dabei sein können.

„Zum ersten Mal in der türkischen Geschichte“, sagt Cansu, „gibt es eine spontane Volksbewegung, es ist großartig.“ Eine Bewegung, die dem bisher übermächtigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan die vielleicht empfindlichste Niederlage seines Lebens beigebracht hat. Der 59-jährige Erdogan legt viel Wert darauf, als Mann wahrgenommen zu werden, der unermüdlich für das Volk arbeitet. Und jetzt ist er von diesem Volk in die Schranken gewiesen worden.

Eine neue Ära für die Türkei hat am Taksim-Platz begonnen, sagen viele an diesem Morgen. Die Zeichen der geschlagenen Schlacht sind noch deutlich zu sehen. Wracks von ausgebrannten oder umgeworfenen Autos liegen auf dem Platz, hier und da schwelen noch ein paar Feuer, Scheiben an den Gebäuden rings um den Platz sind zu Bruch gegangen.

Überall sind regierungsfeindliche Parolen zu sehen. „Taksim ist der neue Tahrir“, steht auf einem Plakat. „Die Glühbirne ist geplatzt“, hat jemand auf eine Reklametafel gesprüht – eine Anspielung auf Erdogans Regierungspartei AKP, deren Symbol die Glühbirne ist.

Die uniformierte Polizei lässt sich auf dem Taksim nicht blicken. Lediglich ein paar Zivilpolizisten schleichen als Späher über den Platz.

Nebenan im kleinen Gezi-Park scharen sich ein paar Dutzend Menschen um ihre Lagerfeuer, auf der Straße daneben stehen noch die Barrikaden aus Müll und Eisengeländern. Hier im Gezi-Park hatte alles angefangen. Vor einer Woche hatte ein kleines Häuflein Umweltschützer seine Zelte hier aufgeschlagen, um die Bäume des Parks vor den Arbeitern der Stadtverwaltung zu schützen. Die Bäume sollten weg, weil auf dem Gelände ein historisches Kasernengebäude wiedererrichtet werden sollte, in dem in Zukunft ein Einkaufszentrum untergebracht werden könnte.

Shopping Mall statt Bäume – überall in der Türkei und vor allem in Istanbul, treibt die Regierung ein gigantisches Bauprogramm voran. Erdogan sagt, er modernisiere die Türkei. Die Leute im Gezi-Park sagen, die Regierung betoniere alles zu, ohne die Betroffenen zu fragen.

Bisher kümmerte sich Erdogan nicht um solche Einwände. Noch am vergangenen Mittwoch erklärte er öffentlich, dass die Demonstranten im Gezi-Park anstellen könnten, was sie wollten: „Unsere Entscheidung ist gefallen.“ Das würde er heute wohl nicht mehr so sagen.

Denn als die Istanbuler Polizei in gewohnt brachialer Manier am Freitagmorgen die Baumschützer mit Wasserwerfern, Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen aus dem Gezi-Park fegen wollte, da tat sich Unerhörtes.

Die Demonstranten erhielten immer mehr Zulauf , die Empörung über das Vorgehen der Sicherheitskräfte wuchs. Die Demonstranten wehrten sich mit Steinwürfen. Die Polizei schickte noch mehr Einsatztrupps, doch die Menge leistete Widerstand, formierte sich nach jedem Angriff neu. Die Beamten schossen ihre Tränengaskartuschen schließlich nicht mehr über die Demonstranten hinweg, sondern gezielt auf Schultern, Arme und Köpfe. Am Freitagabend herrschte Krieg in Istanbul.

Der Funke sprang über

Unterdessen sprang der Funke über. In Ankara, Izmir und anderen Städten gingen die Leute ebenfalls auf die Straßen. Insgesamt registrierte das Innenministerium mehr als 90 Kundgebungen in mehr als der Hälfte der 81 türkischen Provinzen. Fast tausend Menschen wurden festgenommen, Dutzende verletzt.

In Istanbul gingen die Auseinandersetzungen auch in der Nacht zum Samstag und nach Sonnenaufgang weiter. Erdogan schimpfte zuerst auf die „Extremisten“, sprach dann aber auch von übertriebener Polizeigewalt – und ließ schließlich am Samstagnachmittag die Sicherheitskräfte vom Taksim abziehen. „Nichts in der Türkei wird mehr so sein, wie es vorher war“, schreibt der Blogger Erol Anar beim Internetportal T24. So wie er denken viele.

„Das Volk hat gesiegt“, sagt der 22-jährige Student Samet am Sonntagmorgen am Taksim. „Es hat der Regierung gezeigt, wozu es fähig ist, und die Regierung hat klein beigegeben.“

Samet und sein Freund Aytek haben mitgemacht beim Aufstand gegen Erdogan, in einer Ecke des Taksim erzählen sie sich gegenseitig die Legenden ihrer Revolution. Etwa die von dem städtischen Busfahrer, der sein Fahrzeug quer auf einer Zufahrtstraße zum Taksim parkte, um eine Barrikade für die Demonstranten zu schaffen. Oder von den Medizinstudenten, die die Verletzten versorgten. Oder von den Ladenbesitzern, die den Demonstranten Wasser und Zitronen gegen das Tränengas gaben.

Aber woraus nährt sich dieser Widerstandsgeist gegen eine Regierung, die erst bei der Parlamentswahl vor zwei Jahren fast 50 Prozent der Stimmen einfuhr? Die der Türkei einen vorher nie gekannten Wohlstand gebracht hat? Deren Chef Erdogan der mit Abstand beliebteste Politiker des Landes ist?

„Es wurde einfach zu viel“, sagt Aytek. Zu viel Arroganz, zu viel Selbstherrlichkeit, zu viel Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung, meint er. „Überall gibt es nur noch Verbote, Freiheiten werden beschnitten. Und Tayyip führt sich auf wie ein Sultan, wie ein Diktator.“ Die allermeisten Türken nennen Erdogan beim Vornamen, weil er ihnen so vertraut geworden ist seit seinem Regierungsantritt vor zehn Jahren.

Kein Wunder, denn Erdogan ist allgegenwärtig. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass er irgendwo im Land irgendetwas einweiht. Er bombardiert die Türkei mit immer neuen Initiativen und Gesetzen, die meist urplötzlich über die Leute hereinbrechen. Gefragt wird kaum jemand, Konsultationen mit Verbänden oder Experten gibt es nur selten, im Parlament kann die AKP schalten und walten, wie sie will.

In einem Land, das lange Zeit mit kurzlebigen und handlungsunfähigen Regierungen geschlagen war, kam Erdogans Tatkraft lange sehr gut an. Doch irgendwann hat er das Maß überschritten. Aytek zeigt es mit seiner Hand, die er über den Kopf hält. „Es steht uns bis hier“, sagt er. „Und dann ist alles explodiert. Die Sache mit den Bäumen war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.“

Was für Erdogan besonders heikel ist: Unter den Demonstranten waren auch seine eigenen Wähler. Leute wie Isa, ein 44-jähriger Bauarbeiter, der vor zwei Jahren der Erdogan-Partei seine Stimme gab. Das wird ihm nicht noch mal passieren, sagt er. An den Protesten gegen die Pläne für den Gezi-Park habe er teilgenommen, weil er sich von der AKP betrogen fühlte.

Dennoch liegt Erdogans Partei in Umfragen noch immer meilenweit vor der Konkurrenz, und die meisten Leute am Taksim-Platz sind sich einig, dass der Premier wohl wieder gewinnen würde, wenn jetzt Wahlen wären. Die Opposition bietet kaum Alternativen.

Erdogan ist beunruhigt

Und doch ist Erdogan beunruhigt. Seine Regierung werde als Baumvernichterin angefeindet, obwohl sie in den letzten Jahren nicht weniger als drei Milliarden neue Setzlinge pflanzen ließ, klagt er. Er lässt seinen Innenminister Muammar Güler erklären, dass brutale Polizisten mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen haben – bisher hatte die Regierung die Beamten stets in Schutz genommen.

Kadir Topbas, Erdogans Parteifreund und Istanbuler Oberbürgermeister, tingelt unterdessen durch die Fernsehsender, wo er sich in Interviews reuig zeigt und Besserung verspricht. Die Stadt habe die Bürger einfach nicht richtig über ihre Pläne für den Gezi-Park informiert, sagt er. „Wir wissen doch, dass wir nichts gegen die Bürger tun können.“

Im kommenden Jahr stehen Kommunalwahlen an in der Türkei, und Istanbul ist der größte Schatz, den es für die Parteien zu erbeuten gibt. Erdogan selbst begann seine Karriere als Istanbuler Bürgermeister, islamisch-konservative Parteien regieren die Stadt seit fast 20 Jahren. Sollte Erdogans AKP die Metropole an die Konkurrenz verlieren, wäre das eine schwere Schlappe. Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei, sagen türkische Politiker.

Künftig werde sich der Premier deshalb nicht mehr ganz so selbstherrlich über die Forderungen der Bevölkerung hinwegsetzen, glauben die Leute auf dem Taksim-Platz. In einigen Stadtteilen von Istanbul feierten die Menschen die ganze Nacht den Sieg über die Regierung.

Zumindest in der Öffentlichkeit bleibt Erdogan in der Sache aber hart. Der Gezi-Park werde umgestaltet, sagt er. Der Wähler habe seiner Partei die Macht dazu gegeben. Sogar eine Moschee will Erdogan am Taksim-Platz bauen lassen, dem symbolischen Zentrum der laizistischen Republik, um dessen Atatürk-Denkmal sich am Sonntag die Demonstranten scharen, als suchten sie Rückendeckung von der allerhöchsten Instanz.

Nicht nur in der Türkei, auch im Ausland wird sich Erdogan künftig mehr Fragen nach seinem Demokratieverständnis gefallen lassen müssen. Schließlich hat seine Regierung in den vergangenen Jahren kaum eine Gelegenheit ausgelassen, nahöstliche Despoten zu mehr Demokratie aufzurufen. Die Istanbuler Straßenschlachten sind deshalb eine willkommene Gelegenheit für Erdogan-Gegner in Nahost, den Spieß umzudrehen.

So zeigte sich die Regierung des Erzfeindes und Bürgerkriegslandes Syrien bestürzt über das Ausmaß der Gewalt beim Nachbarn. Erdogan solle die Unterdrückung des eigenen Volkes beenden oder zurücktreten, hieß es in Damaskus – mit einer ganz ähnlichen Wortwahl hat Ankara den syrischen Präsidenten schon x-mal zum Amtsverzicht aufgefordert. Nicht nur zu Hause hat Erdogan den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren.

Thomas Seibert

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