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Russische Matrosen am "Kursk"-Mahnmal in St. Petersburg.
© afp

U-Boot-Untergang in Russland: Unglücksursachen auch zehn Jahre danach noch unklar

Vor zehn Jahren sank in der Barentssee das Atom-U-Boot „Kursk“. Bis heute gibt es keine völlige Klarheit über das Unglück und die misslungene Rettungsaktion.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Haus Nummer 38 in der Straße der Flugzeugbauer nicht von seinen Nachbarn, vierzehngeschossige Plattenbauten, die am Stadtrand von St. Petersburg in den grauen Himmel ragen. Im Volksmund heißt die Nummer 38 „das Haus der Witwen“. Einen Teil der Wohnungen haben die Familien jener 118 Matrosen bekommen, die vor zehn Jahren mit dem Atom-U-Boot „Kursk“ in der Barentssee ertranken. Auch Anna Wassiljewa, 33, und ihre beiden Söhne Jegor, 13, und Artjom, 11, zogen hier im August 2001 ein. Geschmackvoll mit schwedischen Holzmöbeln eingerichtet, zeigt die Zweizimmerwohnung bescheidenen Wohlstand. Sie und die Kinder, sagt Anna, bekämen eine gute Rente, auch arbeitet die gelernte Krankenschwester inzwischen wieder in ihrem Beruf.

Mit der Tragödie ist sie jedoch noch lange nicht fertig. In der Schrankwand steht ein Ordner, prall gefüllt mit Zeitungsartikeln zum Untergang der „Kursk“. Darunter auch eine Meldung von Februar 2009: Mitglieder einer Organisation zur Unterstützung der russischen Flotte hatten den Turm des Wracks, der in Murmansk nahe der Kathedrale in ein Mahnmal für das Unglück und seine Opfer eingebaut werden sollte, auf einem Schrottplatz gefunden. Sie habe die halbe Nacht geweint, sagt Anna.

Im Februar 2002 wurde der Untersuchungsbericht vorgelegt. Er bürdet der Besatzung die alleinige Schuld an dem schwersten Unfall der russischen Kriegsmarine auf. Die chronische Unterfinanzierung, die die Matrosen zwang, bei Übungen abgeschossene Torpedos wieder aus der See zu fischen und neu zu laden, bleibt in dem Report ebenso außen vor wie die chaotischen Rettungsarbeiten, die Vertuschungsversuche von Staats- und Marineführung und das tagelange Schweigen des Präsidenten Wladimir Putin, der damals am Schwarzen Meer Urlaub machte und sich mit den Familien der Matrosen erst zehn Tage nach dem Untergang traf. Der TV-Kanal NTV – damals Markenzeichen für schnelle und objektive Berichterstattung – war live mit dabei und zeigte Bilder, auf denen eine Militärärztin besonders aggressiven Fragestellerinnen etwas spritzte – vermutlich Beruhigungsmittel.

Putin rächte sich wenig später mit Entzug der Sendelizenz für NTV. Zum ersten Jahrestag der Tragödie im August 2001 untersagte der Kreml auch Interviews mit den Hinterbliebenen. Im November zuvor waren aus dem Wrack die ersten Leichen geborgen worden und in der Tasche des Offiziers Andrei Kolesnikow hatten die Retter einen Zettel gefunden, aus dem hervorgeht, dass 23 Mann, ein Sechstel der Besatzung, die eigentliche Havarie überlebt hatten und qualvoll erstickten, weil Rettungsversuche der Kriegsmarine erfolglos blieben und Russland, aus Imagegründen wie aus Furcht vor Spionen, ausländische Hilfe zunächst ablehnte.

Auf Kolesnikows Zettel – in völliger Dunkelheit und mit sichtlicher körperlicher Anstrengung geschrieben – ist auch von Brand und einer Explosion an Bord die Rede. Beides hatte die russische Seekriegsflotte lange geleugnet, obwohl die norwegischen Kollegen am 12. August 2000 kurz vor Mittag in der Barentssee, 180 Kilometer nordöstlich vor Murmansk, zwei Explosionen registriert hatte. Kurz danach funkte die „Kursk“ zum ersten Mal SOS. Die russische Öffentlichkeit erfuhr davon erst am nächsten Tag. Zunächst war auch nur von einer Havarie die Rede, erst unter dem Druck der Medien ließ die Flottenführung die Katze aus dem Sack, sprach zuerst von Unglück, dann von Katastrophe.

Einer Katastrophe, deren Ursachen laut Marinechef Wladimir Wysozki bis heute nicht vollständig geklärt sind. Als wahrscheinlich gilt, dass sich ein Torpedo zu stark erhitzte, weil der Antrieb zu früh angeworfen wurde. Es kam in der Folge zu einer Knallgasexplosion, das Feuer fraß sich in Sekunden bis in den Torpedoraum am Bug vor, wo Sprengköpfe detonierten und die Außenwand durchschlugen. Wasser schoss durch das Loch, die „Kursk“ sank in Minuten.

Andrei Wassiljew, Annas Ehemann, der vorne im Reaktorraum Dienst hatte, war wohl sofort tot. „Er hat wenigstens nicht leiden müssen. Ich aber stand vor der Frage, wie ich das den Kindern beibringen sollte, die damals noch zu klein waren, um zu verstehen, was Tod ist. Ich habe ihnen daher erzählt, Papa sei auf einer langen Dienstreise. Und jedes Mal, wenn Jegor versuchte, ihn mit dem Kindertelefon anzurufen, hat es mir das Herz zerrissen.“

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