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An der Front. Die Bundeswehr beteiligt sich zurzeit noch mit 4740 Frauen und Männern an der internationalen Schutztruppe Isaf.
© dpa

Die Nato in Afghanistan: Ungeordneter Rückzug

Die Nato legt viel Wert auf einen schnellen Abzug aus Afghanistan – zulasten der Sicherheit, so ein Expertenbericht.

Der Zeitplan soll nicht infrage gestellt werden: 2014 will die Nato nach mehr als zwölf Jahren ihren Kampfeinsatz in Afghanistan beendet und alle entsprechenden Truppen abgezogen haben; die Verantwortung für ihre Sicherheit sollen die Afghanen dann selbst tragen können. Der Gipfel in Chicago am Sonntag und Montag soll das Datum bekräftigen und über die Zeit nach 2014 beraten.

Genau darin sieht Barbara Stapleton das Problem. Die USA und ihre Nato-Verbündeten wollen Afghanistan vor allem schnellstmöglich verlassen, schreibt die frühere Beraterin des EU-Sondergesandten für Afghanistan in ihrem Bericht „Beating a Retreat“ für das „Afghanistan Analysts Network“ in Kabul. Eine Alternative gibt es nicht. Damit aber, so ihre Analyse, legt die Nato eher „die Grundlage für noch mehr Instabilität in Afghanistan“.

Damit die Übergabe erfolgreich verlaufen kann, müssen die Sicherheitskräfte einsatzfähig und die afghanischen Regierungsstellen in der Lage sein, die weitere Entwicklung des Landes bis in die Provinzen hinein voranzubringen. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Was die Sicherheitskräfte betrifft, wird in der Nato darüber diskutiert, ob die noch für Oktober dieses Jahres angestrebte Zahl von insgesamt 352000 afghanischen Sicherheitskräften (das schließt unter anderem Armee und nationale Polizei mit ein), überhaupt noch zu halten ist und nicht besser um ein Drittel auf etwa 240000 Mann reduziert werden sollte. Kabul wird schlicht das Geld fehlen, um so viele Soldaten und Polizisten zu bezahlen. Was deren Ausbildung und das sogenannte „Partnering“ betrifft, warnt Stapleton vor einem wachsenden Misstrauen zwischen Afghanen und Nato-Soldaten. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 16 Mitglieder der Isaf-Truppen von ihren afghanischen Kollegen – oder als solche verkleideten Militanten – getötet worden. Andererseits aber bräuchte es, auch um die schrumpfende Zahl an Sicherheitspersonal auszugleichen, mehr Ausbilder und Mentoren aus den Nato-Ländern. Woher die kommen sollen und wie viele es sein werden, ist offen – und ein wichtiges Thema für Chicago.

Auch die weitere Finanzhilfe für Afghanistan nach dem Rückzug der Kampftruppen wird auf dem Gipfel eine Rolle spielen. Nach Weltbankangaben kommt der größte Teil des afghanischen Haushalts (die Angaben variieren zwischen 60 und 90 Prozent) aus dem Ausland, von anderen Staaten und internationalen Organisationen. Stapleton schätzt, dass die bereits sinkende Hilfe weiter zurückgehen wird, und beruft sich dabei unter anderem auf EU-Offizielle. Wie die Zentralregierung – die zudem von Korruption und Missmanagement geprägt ist – so ihre Aufgaben wird weiter erfüllen können, bleibt zumindest für den Moment unklar. Deutschland, das derzeit an die 4700 Soldaten in Afghanistan stationiert hat, hat diese Woche angekündigt, für die Sicherheitskräfte nach 2014 zunächst 150 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen. Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP), sagte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa, die derzeit 430 Millionen Euro Hilfe für zivile Projekte werde man „versuchen“ „erst einmal zu stabilisieren“.

Das Verhältnis zu Pakistan ist entscheidend - aber genau da hakt es.

Ausgesprochen wichtig für die Zeit nach dem Abzug der Kampftruppen wird auch, ob und wie ein politischer Deal mit den Taliban gefunden werden kann, die derzeit vor allem aus dem pakistanischen Grenzgebiet heraus operieren. Wie die Chancen dafür stehen, kann derzeit kaum jemand ernsthaft beurteilen; offensichtlich ist jedoch, dass Afghanistans Nachbar Pakistan unzufrieden mit der ihm zugedachten Rolle ist und mehr Einfluss nehmen möchte.

Überhaupt ist das Verhältnis zu Pakistan im Blick auf die Situation in Afghanistan entscheidend – auch um den Abzug der internationalen Truppen zu organisieren. Viele Nato-Länder wollen große Teile ihrer Ausrüstung über Pakistans Hafenstadt Karachi zurück in die Heimat schiffen. Doch das Verhältnis zu den USA war in den vergangenen Monaten so schlecht wie schon lange nicht. Ein halbes Jahr lang hatte Pakistan wegen eines US-Luftangriffes auf einen Grenzposten, beim dem 24 pakistanische Soldaten getötet worden waren, den Nato-Nachschub über Karachi nach Afghanistan unterbunden. Inzwischen deutet sich aber zumindest eine teilweise Entspannung an: Islamabad scheint mittlerweile bereit, die wichtigen Routen wieder zu öffnen, bestätigte Isaf-Kommandeur John Allen. Dafür verlangt Islamabad offenbar einen Preis: zwischen 1500 und 1800 Dollar für jeden Nato-Lastwagen, der von der Hafenstadt Karachi nach Afghanistan rollt, meldeten pakistanische und US-Medien. Dies könne sich bei mehr als 600 Lastern auf fast eine Million Dollar am Tag summieren. Die „Washington Post“ berichtete sogar von 5000 Dollar pro Container.

Die Hauptlast des neuen Wegzolls dürften die USA zahlen, die über zwei Drittel der 130 000 ausländischen Soldaten in Afghanistan stellen. Dennoch rechnen Washington wie Islamabad offenbar mit einer Einigung; als Indiz dafür gilt, dass Pakistans Präsident Asif Ali Zardari doch am Nato-Gipfel teilnehmen darf, nachdem ihm zunächst mit Ausschluss gedroht worden war. John Allen betonte die „hoffnungsvollen Signale“ im Blick auf die weitere Zusammenarbeit mit Pakistan. Islamabads Außenministerin Hina Rabbani Khar sagte: „Pakistan hat ein Zeichen gesetzt. Nun ist es Zeit, nach vorne zu blicken.“

Nicht nur der Angriff auf den Grenzposten hatte das Verhältnis zwischen den USA und Pakistan schwer belastet. Im Februar 2011 erschoss ein US-Agent zwei Pakistaner in Lahore, im Mai töteten US-Spezialkräfte Osama bin Laden in der pakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad. Als der Luftangriff auf den Grenzposten im Herbst zur Sperrung der Nato-Nachschubrouten durch Pakistan führte, musste das Bündnis zur Truppenversorgung auf viel längere und teurere Routen durch Zentralasien ausweichen.

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