SPD-Außenpolitiker Michael Roth im Interview: „Ungarn geht in die falsche Richtung“
Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth fürchtet eine Abkehr von den Werten der EU durch die Regierung in Budapest. Europa müsse mehr tun für den Schutz von Grundrechten.
Herr Roth, am Dienstag vor 25 Jahren öffnete Ungarn nach dem Paneuropäischen Picknick bei Sopron seine Grenze zum Westen. Wie erinnert sich die deutsche Politik an diese symbolische Geste mit weit reichender Wirkung?
Auch nach 25 Jahren haben wir allen Grund, uns bei den Ungarn zu bedanken. Das Land war für viele Bürger der DDR das Tor zur Freiheit. Ohne den Beitrag Ungarns hätte die Wiedervereinigung viel länger gedauert. Das Paneuropäische Picknick war ein wichtiger Beitrag zu Freiheit und Demokratie in Europa.
Nun gibt es in Ungarn Entwicklungen, die jedem Demokraten Sorgen machen müssen. Soll die deutsche Politik zum Sopron- Jahrestag aus lauter Dankbarkeit auf Kritik verzichten?
Wir sind Freunde, und ohne offene Worte funktioniert keine Freundschaft. Wir danken den Ungarinnen und Ungarn für ihren Mut, sich für Freiheit einzusetzen. Aber wir fragen auch nach dem Stand der Freiheit in Ungarn heute. Die Entwicklungen, die uns große Sorgen machen, betreffen unser gemeinsames europäisches Fundament. Wenn Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unter Druck geraten, müssen wir das offen ansprechen.
Kritisiert wird der Umgang der Regierung Orbans und ihrer Parlamentsmehrheit mit der Verfassung, mit Oppositionsrechten, mit der Pressefreiheit, mit Minderheiten. Welche Entwicklung ist die bedrohlichste?
Richtig, es gibt einige konkrete Ansatzpunkte für unsere Sorgen. Es geht mir aber nicht nur um einzelne Regelungen. Es ist die Summe der Angriffe auf die europäischen Werte, die Anlass zur fortwährenden Irritation gibt. Ich habe meine Zweifel, ob sich die derzeitige ungarische Regierung den Grundwerten der EU noch so verbunden fühlt, wie das zwingend notwendig wäre.
Orban hat Ende Juli eine Rede gehalten, in der er ankündigte, das neue Ungarn werde „keine liberale Demokratie“ mehr sein, die Nation zähle mehr als das Individuum, autoritäre Staaten nannte er als Vorbild. Wohin führt das, wenn ein EU-Regierungschef eine solche Politik verfolgt?
Ich fürchte, in die völlig falsche Richtung. Der Schutz des Individuums, die Verknüpfung von Emanzipation, Demokratie, Freiheit und Akzeptanz gegenüber Minderheiten machen die Identität der EU aus. Wer die freiheitliche Demokratie ablehnt und autoritäre Staaten als Modell preist, verabschiedet sich von fundamentalen Grundsätzen der Europäischen Union.
Wenn die Entwicklung so besorgniserregend ist, wieso findet dann die EU kein Mittel dagegen?
Die bisher von der EU eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn beziehen sich in erster Linie auf Verstöße gegen Binnenmarktregeln. Bislang gibt es innerhalb der EU keinen funktionierenden Mechanismus, der Angriffe auf und Verstöße gegen die Grundwerte ahndet. Deshalb ist es gut, dass die Kommission im Frühjahr auch auf deutsche Initiative hin einen Vorschlag für einen Grundwerte- und Rechtsstaatsmechanismus unterbreitet hat.
Bei Verstößen gegen Grundrechte kann die EU heute schon Mitgliedstaaten das Stimmrecht entziehen. Ist das kein geeignetes Mittel gegen Ungarn?
Manche nennen diese Sanktion eine Atombombe, die die EU kaum je zünden dürfte. Sie hat sie auch noch nie angewandt. Es ist ein Abschreckungsszenario. Wir brauchen einen politischen Mechanismus unterhalb dieser Schwelle. Aktuell geht es darum, einen Staat wie Ungarn wieder zur Rückkehr in die Mitte Europas einzuladen. Da ist ein Entzug des Stimmrechts kontraproduktiv.
Die ungarische Regierung bemängelt, sie werde als kleiner Staat härter angefasst als große EU-Mitglieder. Ist da was dran?
Nein, der Vorwurf trifft nicht zu. Es geht nicht um eine Lex Ungarn. Ein neues Instrument zum Schutz der Grundwerte soll gleichermaßen für alle Mitgliedstaaten gelten. Es geht um ein transparentes Verfahren und faire und verbindliche Vorgaben für alle. Dafür wird sich Deutschland einsetzen.
Hans Monath