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Der in Deutschland geborene ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Festakt zum 70. Jahrestag des Marshall-Plans.
© John Macdougall / AFP

Lehren aus 70 Jahren Marshall-Plan: Unbequemes Erfolgsgeheimnis

Die US-Aufbauhilfe für Europa war erfolgreich, weil sie Hilfe an Bedingungen knüpfte. Ein Verstoß gegen Grundwerte sollte heute zum Geldentzug führen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Strahlkraft des Namens und der Idee ist ungebrochen. Wo immer eine Region nach Krieg oder Katastrophe Aufbauhilfe benötigt, wird nach einem „Marshall-Plan“ gerufen. Das Original vor 70 Jahren war revolutionär – aber nicht, weil es die Solidarität mit Hilfsbedürftigen propagierte. Der Marshall-Plan war revolutionär, weil er aus Gegnern Verbündete machte, statt Rache zu üben. Und weil er eine regelbasierte Weltordnung vorantrieb.

Morgenthau wollte Deutschland auf ein Agrarland reduzieren

Kurz zuvor hatten die USA noch den Morgenthau-Plan diskutiert: Deutschland sollte ein reines Agrarland bleiben und mangels Industrie nie wieder zu Krieg fähig sein. Nun finanzierten die USA den Aufbau Deutschlands und seiner Nachbarn zu Industriestaaten. Die Mittel flossen nicht als freie Nothilfe, wie das neuerdings meist klingt, wenn ein „Marshall-Plan“ für Syrien, Afrika oder den Balkan gefordert wird, sondern unter Bedingungen. Zu denen gehörten die Kofinanzierung aus Eigenmitteln und die Mitarbeit an einer strukturellen Neuordnung, die Werten folgt, wie Kanzlerin Angela Merkel beim Festakt in Berlin hervorhob: Freiheit und Würde des Individuums, Herrschaft des Rechts, marktwirtschaftliche Ordnung.

Westeuropa nahm die Konditionierung an, das macht für den 94-jährigen deutschen Auswanderer Henry Kissinger, der den USA zwei Jahrzehnte nach dem Initiator des Plans George C. Marshall als Außenminister diente, die historische Leistung aus. Die Bundesrepublik wurde ein gleichberechtigter Partner, der Marshall-Plan legte die Fundamente für die europäische Einigung, die Nato und den Erfolg des Westens in der globalisierten Wirtschaft.

Der Gegner als Partner: Das nützt der heimischen Wirtschaft

Merkel interpretierte die Grundlehren aus dem Marshall-Plan als Handlungsanweisungen für heute: Hilfe muss nicht altruistisch sein. Politik auf der Grundlage eigener Werte und Interessen kann zum Vorteil aller sein. Abschottung und Protektionismus schaden. Einen ehemaligen Gegner zum Wirtschaftspartner aufzubauen, nutzt auch der eigenen Wirtschaft. So lassen sich alte Feindschaften überwinden. Internationale Politik ist kein Nullsummenspiel, sondern lässt sich so gestalten, dass alle profitieren: „Win-Win“.

Zwei große Fragen ließen Merkel und Kissinger offen: Sind diese Voraussetzungen übertragbar auf die heutigen Kriegs- und Notstandsgebiete, die Aufbauhilfe benötigen? Und ist, zum Beispiel, die Europäische Union bereit, ihre Hilfsprogramme nicht nur verbal an Bedingungen zu knüpfen, sondern diese im Zweifel durchzusetzen – nach außen wie innen?

Die EU sollte ihre Hilfe für Mitglieder bei Regelverstoß entziehen

Der Marshall-Plan war so erfolgreich, weil die Empfänger Bedingungen erfüllen mussten. Michael Ignatieff, Rektor der Central European University in Budapest, die Ungarns Premier Viktor Orban schließen will, weil George Soros sie finanziert, wagte einen unbequemen Aufruf: Es komme der Moment, wo die Kanzlerin Orban sagen müsse: „Wir drehen dir das Wasser ab! Du kannst nicht am Wochenende unsere Schecks nehmen und unter der Woche Wahlkampf gegen die EU führen.“

Das Prinzip des Marshall-Plans sollte auch heute gelten: Wer gegen Europas Werte verstößt, muss von den anderen Regierungen zur Raison gebracht werden. Regelbruch muss zu Entzug führen.

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