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Das umstrittene Internetgesetz soll nun doch entschärft werden.
© dpa

Nach massiven Protesten: Umstrittenes Internetgesetz in der Türkei soll entschärft werden

Nach den Protesten gegen das neue Internetgesetz in der Türkei lenkt die Regierung ein: Präsident Gül und Premier Erdogan wollen jetzt doch umstrittene Passagen entschärfen. Geplant war etwa die Möglichkeit, Internetseiten innerhalb von vier Stunden zu sperren.

Noch vor wenigen Tagen verteidigte die türkische Regierung das neue Internetgesetz als demokratisch und fortschrittlich - jetzt plant sie eilig Nachbesserungen. Umstrittene Passagen des Gesetzes, das der Regierung die Macht zur Sperrung einzelner Websites gibt, sollen entschärft werden. Premier Recep Tayyip Erdogan und Präsident Abdullah Gül, alte politische Weggenossen, haben damit eine direkte Konfrontation vermieden, doch der politische Preis ist hoch, auch mit Blick auf die Beziehungen zur EU.

Kritik an Präsident Gül

Ein auf den ersten Blick harmloses Bild sorgte am Mittwoch für heftigen Streit in Ankara. Ein Chef-Bürostuhl aus braunem Leder war darauf zu sehen. Die Überschrift über dem Foto, kurz nach Güls Zustimmung zum Internetgesetz von dem türkischen Oppositionspolitiker Mustafa Sarigül auf Twitter verbreitet, machte aus dem leeren Stuhl eine hochpolitische Botschaft. „Das Präsidentenamt der türkischen Republik“ war da zu lesen.

Sarigül drückte damit aus, was viele Regierungskritiker denken: Statt die Regierung zu kontrollieren und in die Schranken zu weisen, ist Gül als Präsident eine schwache Figur, die alles durchwinkt, was ihr vorgesetzt wird.

Keine Ohrfeige für Erdogan

Kritiker des Internetgesetzes innerhalb und außerhalb der Türkei hatten den EU-Anhänger Gül aufgerufen, das Gesetz ans Parlament zurückzuschicken – das wäre eine Ohrfeige für Erdogan gewesen. Statt dessen unterzeichnete Gül das Gesetz, nachdem er von der Regierung die Zusage für die Nachbesserungen erhielt. Sarigül, Kandidat der Oppositionspartei CHP für das Bürgermeisteramt in Istanbul bei den Kommunalwahlen am 30. März, ließ sich deshalb die Gelegenheit für einen Angriff auf die Staatsspitze nicht entgehen.

Weitreichende Eingriffe in die Meinungsfreiheit

In seiner ursprünglichen Form gab das Gesetz der Regierung das Recht, aufgrund angeblicher Beleidigungen eine Internetseite binnen vier Stunden zu sperren. Die Opposition warf Edrdogan vor, damit sollten Berichte über Korruption in der Regierung unterdrückt werden. Zudem sollten die Sicherheitsbehörden den Zugriff zu den zwei Jahre lang gespeicherten Surf-Daten von Nutzern erhalten.

Auf Güls Wunsch hin erklärte sich die Regierung zu Korrekturen in beiden Punkten bereit. So soll die Internetbehörde von sich aus sofort ein Gericht einschalten, wenn sie eine Website sperrt. Außerdem sollen die Surf-Inhalte eines Nutzers nur noch auf richterliche Anordnung an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden. Ob sich damit viel verbessert, wird von der Opposition bezweifelt. Präsident Gül habe sich zum „Partner“ bei der Verschleierung von Korruptionsvorwürfen gemacht, erklärte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu.

Twitter-Follower wenden sich von Gül ab

Manche Erdogan-Kritiker hatten auf eine entschiedene Intervention Güls gehofft, um Erdogans Regierung die Grenzen aufzuzeigen. Dass Gül ein Veto vermied und sich für Nachverhandlungen mit der Regierung entschied, hat seinem Ruf als Reformer ernste Kratzer zugefügt. Rund 90.000 seiner ursprünglich knapp 4,4 Millionen Twitter-Anhänger wandten sich am Mittwoch von Gül ab.

Auch Erdogan kann mit den Korrekturen nicht den Eindruck aus der Welt schaffen, dass er mehr Macht für sich selbst statt mehr Demokratie für das Land anstrebt. Erst in den vergangenen Tagen war ein Telefonmitschnitt aufgetaucht, dem zufolge Erdogan einen privaten Fernsehsender aufforderte, dem Istanbuler Oppositionskandidaten Sarigül weniger Platz in der Berichterstattung einzuräumen.

Die EU ist weiter sehr besorgt. Medienberichten zufolge schickte die Brüsseler Kommission erneut einen Beschwerdebrief an die türkische Regierung – das fünfte Schreiben seit Aufdeckung der Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Regierung im Dezember. Der Premier sieht die Vorwürfe als Teil einer Verschwörung regierungsfeindlicher Kräfte im Staatsapparat und reagierte mit Massenversetzungen von Polizisten, Richtern und Staatsanwälten. Mit einer kürzlich beschlossenen Justizreform gibt sich die Regierung mehr Macht bei der Besetzung von Richterposten. Die Opposition legte am Mittwoch Verfassungsbeschwerde gegen die Reform ein, die noch von Gül abgezeichnet werden muss.

Brüssel sei „mit seinem Latein am Ende“, hieß es am Mittwoch in der englischsprachigen „Hürriyet Daily News“. EU-Vertreter sagten dem Blatt, das Internetgesetz und die Justizreform enthielten Regelungen, die im Widerspruch zu den wichtigsten Werten der EU stünden. Problematisch seien nicht allein die einzelnen Gesetze, sagte ein Diplomat in Ankara unserer Zeitung. „Es ist die Absicht, die dahinter erkennbar wird.“

Thomas Seibert

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