Bereit für den Ernstfall: Ukrainer üben Überlebensstrategien für möglichen Einmarsch Russlands
Den Menschen in den Großstädten sei klar, dass der Krieg auch sie erreichen könnte, sagt der Kursleiter. Darauf bereitet er Zivilisten in der Ukraine vor.
In einem Wald am Stadtrand von Kiew, umgeben von dürren Sträuchern und Schneegestöber, hat eine Gruppe von Ukrainern sich einen dürftigen Unterstand gebaut. Die Männer und Frauen drängen sich um ein kleines Feuer und essen ihr Frühstück aus Blechbüchsen. Sie trainieren hier bei Minusgraden für den Ernstfall - einen möglichen russischen Einmarsch in die Ukraine.
Zwei Tage lang lernen die Teilnehmer des Überlebens-Trainings, in der Wildnis Feuer zu machen, die Kälte zu überstehen und sich aus Ästen einen Unterschlupf zu bauen. "Wenn wir von Russland angegriffen werden, ist es sehr wichtig, diese Fähigkeiten zu besitzen", sagt der 29-jährige Kursteilnehmer Artem Kusmenko.
Man könnte meinen, die Ukraine habe sich an die immerwährende Bedrohung gewöhnt. Seit der russischen Krim-Annexion im Jahr 2014 hält der Ukraine-Konflikt die Welt in Atem. In der Ostukraine kämpfen prorussische Separatisten seitdem gegen die ukrainische Armee. In dem Konflikt wurden bereits mehr als 13.000 Menschen getötet.
Doch in letzter Zeit haben sich die Spannungen deutlich verschärft. Russland hat in den vergangenen Wochen nach westlichen Angaben an der ukrainischen Grenze rund 100.000 Soldaten samt schwerem Gerät zusammengezogen. Seitdem bereiten sich auch in den Städten immer mehr Ukrainer für den Ernstfall vor.
"Die Menschen in den Großstädten haben sich daran gewöhnt, dass der Konflikt weit von ihnen entfernt ist", sagt Kursleiter Sergej Wischnewski, der militärische Tarnkleidung trägt. "Jetzt ist ihnen klar, dass der Krieg auch zu ihnen kommen könnte". Wischnewski kämpfte als Freiwilliger an der Front, bevor er die Überlebenskurse anbot.
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In den vergangenen Wochen hat er einen deutlichen Anstieg an Teilnehmeranfragen verzeichnet. Zu einem Online-Seminar, das er demnächst anbietet, haben sich rund 4000 Menschen angemeldet. In seinen Kursen schildert Wischnewski chaotische Szenen, wie sie ein Einmarsch Moskaus in der Ukraine auslösen könnte: Riesige Menschenmassen, die zur Grenze fliehen, zerstörte Häuser und viele Tote.
Die 33-jährige Psychologiestudentin Jana Kaminska besucht den Kurs zusammen mit ihrem Freund. Sie wollen sich sowohl körperlich als auch geistig auf eine mögliche Invasion Russlands vorbereiten: Eine fertig gepackte Notfalltasche steht jederzeit griffbereit, falls die beiden überstürzt ihre Wohnung verlassen müssen. "Zuallererst würden wir uns um unsere Familien kümmern", sagt Kaminska.
Wenige Kilometer weiter sitzen in einem Hörsaal der Universität von Kiew rund 150 Frauen bei einem Selbstverteidigungs-Kurs. Dozentin Olena Biletska zeigt, wie ein unbewaffneter Angreifer außer Gefecht gesetzt werden kann, indem man auf zwei Punkte an seinem Kopf und Hals drückt.
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Fast tausend Frauen hätten sich zu dem kostenlosen Selbstverteidigungs- und Überlebenstraining gemeldet, das von der Organisation Ukrainian Women's Guard angeboten wird, sagt Biletska. Aufgrund der Corona-Maßnahmen habe die Zahl der Teilnehmerinnen aber deutlich begrenzt werden müssen.
"Man denkt und plant für den schlimmsten Fall, der eintreten könnte - eine Militäroperation", sagt die 25-jährige Kursteilnehmerin Olexandra Kowalenko. Sie wolle für alle Fälle gerüstet sein.
Um Rüstung im wahrsten Sinne des Wortes geht es bei einem Kurs auf einem ehemaligen Fabrikgelände der Stadt. Unter dem Motto "Keine Panik, bereiten Sie sich vor" zeigen ehemalige freiwillige Kämpfer aus der Ostukraine den Teilnehmern den richtigen Umgang mit Waffen. Mit Holzmodellen von Kalaschnikow-Gewehren üben die Teilnehmer, eine Waffe richtig zu halten, zu zielen und sich mit der Waffe zu bewegen.
Ob sie das neu erworbene Wissen tatsächlich bald anwenden müssen, weiß keiner der Teilnehmer. Er wolle jedenfalls kein Risiko eingehen, sagt der 20-jährige Jewgeni Petrik. "Ich bin kein Wahrsager, aber man muss sich bereit halten." (AFP)