zum Hauptinhalt
Anschlag auf dem Breitscheidplatz: Der Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters Amri beschäftigt den Bundestags-Innenausschuss.
© Michael Kappeler/dpa

Anschlag vom Breitscheidplatz: Überwachung aller Terrorverdächtigen für Behörden unmöglich

Der Berliner Senat und die Polizei rechtfertigen die lückenhafte Kontrolle des Attentäters Anis Amri mit einem zu hohen Personalaufwand. Die Union kritisiert mögliche Behördenpannen.

Der Berliner Senat und die Polizei haben die lückenhafte Überwachung des späteren Attentäters vom Weihnachtsmarkt, Anis Amri, im Jahr 2016 gerechtfertigt. Das sei eine Frage der Gefahrenbewertung und der Kapazitäten der Polizei, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Montag im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Die Überwachung aller 550 sogenannten islamistischen Gefährder in Deutschland würde mehr als 16 000 Polizisten nur dafür erfordern. „Die stehen nicht zur Verfügung. Die werden auch nicht zur Verfügung stehen.“

Abgeordnete der Opposition, aber auch der Regierungsfraktionen kritisierten, dass es immer noch offene Fragen gebe und dass die Erklärungen der Polizei nicht alle nachvollziehbar seien.

Geisel sagte, die Telefonüberwachung von Amri im Sommer 2016 habe keine Erkenntnisse geliefert und sei daher im September beendet worden. „Wir können den Menschen nicht in den Kopf schauen.“ Auch eine sofortige Auswertung der Videoaufnahmen der Fussilet-Moschee, wo Amri ein- und ausging, hätten wenig geändert, sagte Geisel. „Damals hätte man nur festgestellt, dass ein Islamist in eine Moschee geht.“ Das sei weder strafbar noch ein Haftgrund.  

Auch der Chef des Berliner Landeskriminalamtes, Christian Steiof, verteidigte das Vorgehen seiner Leute. „Die Tischdecke ist zu klein, um alles im Griff zu behalten, das ist ganz klar.“ Alle sogenannten Gefährder rund um die Uhr zu überwachen, sei „völlig unmöglich und wird auch niemals machbar sein.“ Amri sei damals nicht der einzige gewesen, den die Polizei im Fokus hatte.

Kritik an Behörden in Nordrhein-Westfalen

In der Diskussion um mögliche Behördenpannen hat bei einer Sondersitzung des Innenausschusses die Union die SPD-geführte Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ins Visier genommen. Die nordrhein-westfälischen Behörden hätten die Abschiebung Amris nicht mit der nötigen "Dringlichkeit und Vehemenz" vorangetrieben, kritisierte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer (CSU), am Montag in Berlin. Viele Fragen der Abgeordneten blieben nach der fünfstündigen Sitzung offen.

Der Ausschuss hatte unter anderem NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) angehört. Mayer zeigte sich "überrascht", dass Jäger die Verantwortung den Behörden von Amris Heimatland Tunesien zuschiebe, die erforderliche Ausweispapiere nicht geliefert hätten. Das sei "zu einfach". Die Landesbehörden in Nordrhein-Westfalen hätten zumindest versuchen müssen, vor Gericht Abschiebehaft zu beantragen.

Auch der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster sagte, Nordrhein-Westfalen sei "in erster Linie" verantwortlich, dass Amri nicht inhaftiert wurde. Da der Tunesier wegen einer Reihe kleinkrimineller Vergehen aktenkundig war, hätte es dafür "gleich mehrere Chancen" gegeben.

Jäger wies die Vorwürfe nach der Sitzung zurück. "Um es mal ganz deutlich zu sagen: Die Bundesregierung hat Rücknahmeabkommen mit Ländern wie Tunesien und Marokko und Algerien vereinbart, die in den Ländern und Kommunen nicht praktikabel umsetzbar sind", sagte er. Die Einschätzung, dass von Amri keine unmittelbare Anschlagsgefahr ausgehe, sei derweil unter Beteiligung von Bundes- und Landesbehörden im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) getroffen worden.

"Fehler sind überall gemacht worden", sagte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Burkhard Lischka. "Es hat keinen Zweck, wenn man in Zukunft solche Fälle verhindern will, dass einer auf den anderen zeigt, was Zuständigkeiten angeht." Angesichts der Schuldzuweisungen beklagte der Linken-Abgeordnete Frank Tempel, dass in der Sitzung insbesondere zwischen Union und SPD der "Wahlkampf der kommenden Monate" zu spüren gewesen sei.

Amri konnte am 19. Dezember den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz mit zwölf Toten begehen, obwohl er als islamistischer Gefährder auf dem Radar der Sicherheitsbehörden war. Seine Überwachung war vor dem Anschlag mit einem gekaperten Lkw eingestellt worden. Der Tunesier hatte sich mehrere Identitäten zugelegt und war häufig zwischen Berlin und Nordrhein-Westfalen gependelt.

"Längst nicht alle Fragen beantwortet"

Bei der Sondersitzung des Innenausschusses sagten neben Jäger und dem Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) unter anderem auch die Chefs von Bundesnachrichtendienst, Bundesverfassungsschutz und Bundeskriminalamt aus. "Es sind noch längst nicht alle Fragen beantwortet", erklärte anschließend die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke. Die Bereitschaft der angehörten Behördenvertreter, Fehler einzuräumen, sei "praktisch nicht vorhanden".

Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte, dass das Format der Sondersitzung der Komplexität der Thematik nicht gerecht werde - nicht zuletzt, weil die Abgeordneten keine Akteneinsicht hätten. Notz forderte, dass sich Opposition und Koalitionsfraktionen ein "sinnvolles parlamentarisches Verfahren" überlegen müssten. Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele erklärte, "dass ein Untersuchungsausschuss auf Bundesebene immer näher rückt".

Die große Koalition überlässt die Aufarbeitung im Fall Amri zunächst dem für die Geheimdienstaufsicht zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr). Ein Untersuchungsausschusses des Bundestages ist damit zwar nicht vom Tisch, allerdings gibt es Zweifel, ob dies in der sich zu Ende neigenden Legislaturperiode noch sinnvoll ist. (dpa/AFP)

Zur Startseite