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Fußball-Fans in der Türkei protestieren gegen den Doppelanschlag in Istanbul, bei dem mindestens 44 Menschen getötet wurden.
© dpa/Tolga Bozoglu

Nach den Anschlägen von Istanbul: Türkische Behörden gehen gegen Kurdenpartei HDP vor

Die türkischen Behörden gehen nach dem Doppelanschlag massiv gegen Regierungskritiker im Land vor – und die Regierung heizt zugleich die nationalistische Stimmung an, die Vergeltung fordert.

Nach dem Tod von 44 Menschen bei dem Doppelanschlag von Istanbul am Wochenende gehen die türkischen Behörden gegen Kurdenpolitiker und andere Regierungsgegner vor. Das Muster gleicht dem der Festnahmewellen nach dem Putschversuch vom Juli: Ein blutiges Ereignis wird zum Anlass genommen, den Druck auf Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu erhöhen. Auf diese Weise wird sich die Gewalt nicht stoppen lassen – neue Wunden werden aufgerissen.

Die legale Kurdenpartei HDP teilte mit, 237 ihrer Mitglieder seien nach der Bluttat von Istanbul in Polizeigewahrsam genommen worden. Seit dem Putsch sind damit rund 7400 Anhänger der drittstärksten Partei im Parlament von Ankara hinter Gitter gewandert; mehr als 2000 von ihnen sitzen in Untersuchungshaft, darunter die Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Etablierte Nachrichtensender wie CNN-Türk vermeiden Interviews mit HDP-Politikern, weil sie sich nicht dem Verdacht aussetzen wollen, die kurdische Sache zu unterstützen.

Der türkische Staat fragt nicht mehr nach individueller Schuld oder Unschuld, sondern handelt auf der Basis eines Generalverdachts. Nach dem Putschversuch traf es die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Jetzt trifft es die Kurden. Der Doppelanschlag von Istanbul geht auf das Konto einer Splittergruppe der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK – das reicht den Behörden, um zu einem neuen Schlag auch gegen die HDP auszuholen.

Die Regierung heizt zudem eine nationalistische Stimmung an, die Vergeltung für das jüngste Blutvergießen fordert und den Heldentod fürs Vaterland zum Ideal erklärt. „Wir alle sind potenzielle Märtyrer,“ sagte Umweltminister Mehmet Özhaseki am Montag. Als „Märtyrer“ werden in der Türkei gefallene Soldaten und im Dienst getötete Polizisten bezeichnet.

Wut auf den Westen

Zugleich wächst die Wut auf den Westen und seine Vertreter: Nationalisten beschimpfen westliche Staaten als „Mörder“, weil sie angeblich die PKK gewähren lassen. Das US-Konsulat in Istanbul warnte amerikanische Staatsbürger in der Stadt am Montag, sie sollten sich von Trauerkundgebungen nach dem Doppelanschlag fernhalten, weil diese „konfrontativ“ werden könnten. Die regierungstreue türkische Presse attackiert die westlichen Medien, weil diese angeblich den Terror der PKK beschönigen.

So werden innen- wie außenpolitisch weiter Brücken abgebrochen, die Krise verschärft sich. Auch die türkische Wirtschaft sendet erste Stress-Signale. Zum ersten Mal seit dem Krisenjahr 2009 schrumpfte die Wirtschaftsleistung im dritten Quartal um 1,8 Prozent – besonders wegen der drastischen Verluste im Fremdenverkehr: Die Touristen meiden das ständig von Gewalt erschütterte Land.

Der Ausblick auf das kommende Jahr bietet wenig Anlass zur Hoffnung. Der staatliche Druck auf Andersdenkende dürfte vor dem geplanten Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems im Frühsommer weiter zunehmen. Auch nach der Volksabstimmung ist nicht mit einer Rückkehr zu demokratischen Reformen zu rechnen. Gleichzeitig wird der Krieg beim Nachbarn Syrien die Türkei weiter in Mitleidenschaft ziehen.

„Gewalt gebiert Gewalt“, warnte der Erdogan-kritische Journalist Hasan Cemal am Montag in einem Beitrag für das Online-Portal T24. Sowohl die PKK als auch die Regierung seien auf einem verhängnisvollen Weg. Frieden lasse sich nicht herbeibomben, und Erdogans Kurs auf ein Ein-Mann-System verschlimmere die Lage weiter.

Beobachter wie Cemal haben keine Chance, bei der Regierung Gehör zu finden. Vielmehr riskieren sie die Festnahme, wenn sie Erdogan kritisieren. Statt einen breiten gesellschaftlichen Dialog zu beginnen, wie er es vor drei Jahren mit den kurdischen Friedensverhandlungen versuchte, verengt der Präsident den Radius für einen freien Gedankenaustausch immer weiter.

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