„New Start“-Abrüstungsvertrag: Trump gegen Putin – bis einer weint
Die USA und Russland verhandeln über eine Verlängerung des Abrüstungsvertrages „New Start“. Kann das gelingen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Donald Trump und Rüstungskontrolle – das geht eigentlich überhaupt nicht zusammen. Der US-Präsident hat in dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit die zentralen Abrüstungsabkommen aus der Endphase des Kalten Kriegs geschreddert, zuletzt den Open-Skies-Vertrag für die gegenseitige Kontrolle aus der Luft.
Und doch trifft an diesem Montag auf neutralem Boden in Wien sein Sonderbeauftragter Marshall Billingslea mit dem russischen Vize-Außenminister Sergej Riabakow zusammen, um über die Zukunft des „New Start“-Abkommens zu verhandeln.
Der Vertrag begrenzt die Zahl der schweren strategischen Atomwaffen, die jeden Winkel der Erde erreichen können. Unternehmen die zwei Vertragsparteien nichts, läuft er im nächsten Februar einfach aus.
Es wäre das Ende des ältesten und erfolgreichsten Abrüstungsprozesses.
Zum ersten Mal seit 1972 wären die ultimativen Instrumente der Abschreckung, die Drohung der Supermächte mit gegenseitiger Vernichtung, nicht mehr in ein Vertragswerk eingebunden.
Was ist das „New Start“-Abkommen?
Das Abkommen, das Trumps Vorgänger Barack Obama und der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew am 8.April 2010 in Prag unterzeichneten, gilt als einer der erfolgreichsten Abrüstungsverträge. Beide Seiten verpflichteten sich darin, die Zahl ihrer strategischen Trägersysteme – Raketen und Fernbomber – binnen sieben Jahren auf 800 zu verringern, von denen 100 als Reserve nicht aktiv sind. Die Obergrenze für Atomsprengköpfe wurde auf 1550 festgelegt. Noch wichtiger als die Zahlen war das Überprüfungsregime. Jede Seite darf pro Jahr 18 Standorte inspizieren, dazu kommen Datenaustausch und Satelliten- und Luftüberwachung.
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Das Abkommen fand damals ausdrücklich die Unterstützung führender Republikaner. Ehemalige Außenminister, auch Ex-Präsident George W. Bush setzten sich für die Initiative Obamas ein. Sie glaubten zwar nicht an dessen Vision von einer atomwaffenfreien Welt. Aber Bush hatte 1991 selbst den Vorläufervertrag Start-1 mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow unterzeichnet.
Die Initiative dazu war ebenfalls von einem Republikaner gekommen: Ronald Reagan hatte 1982 vorgeschlagen, dass beide Supermächte ihre Vernichtungspotentiale deutlich reduzieren. Und sogar beim Urvater der strategischen Abrüstungsverträge stand ein früher Trump-Parteifreund Pate. 1972 signierte Richard Nixon mit Leonid Breschnew die erste Salt-Abmachung, mit der beide Supermächte ihr strategisches Arsenal einfroren und auf eine flächendeckende Raketenabwehr verzichteten, damit die die Logik der Kriegsverhinderung durch Abschreckung nicht aushebelte, die gegenseitige Drohung mit dem alles vernichtenden Gegenschlag.
Was hat „New Start“ gebracht?
Der Vertrag gilt als voller Erfolg. Schon ein halbes Jahr vor dem Stichtag im Februar 2018 hatten die USA und Russland die Abbauziele erreicht; die tatsächliche Zahl ihrer Langstreckenraketen und -bomber lag sogar deutlich unter den vereinbarten Marken. Das reicht immer noch zur mehrfachen Vernichtung der gesamten Menschheit. Doch Sinn und Erfolg von Abrüstung bemisst sich nicht nur in Zahlen. Wichtiger noch ist der Geist dahinter, der auf Kooperation und vertrauensbildende Maßnahmen setzt. Auch in diesem Punkt ist „New Start“ vorbildlich: Über das Melde- und Inspektionssystem waren nie Klagen zu hören.
Trump allerdings war der Vertrag von Anfang an ein Dorn im Auge, einfach weil er Obamas Unterschrift trug. Schon im allerersten längeren Telefonat mit Wladimir Putin soll der frischgewählte US-Präsident das Abkommen als einen dieser „ganz miesen Verträge“ zu Lasten Amerikas bezeichnet haben, die sein Vorgänger geschlossen habe. Der russische Präsident ahnte damals wohl noch nicht, wie ernst man dieses Bramarbasieren aus Washington ab sofort nehmen musste.
Wie stehen die Chancen für die Gespräche in Wien?
Im Prinzip wäre die Sache einfach. Der „New Start“-Vertrag enthält eine Verlängerungsklausel; eine Unterschrift von Trump und Putin, und das Abkommen bliebe weitere fünf Jahre in Kraft. Doch die US-Seite hat im Vorfeld neue Bedingungen ins Spiel gebracht. Eine davon lautete, dass China in den Pakt eingebunden werden müsse. Doch die Führung in Peking lehnte ab: Das eigene Atomarsenal sei so weit von dem der beiden Alt-Supermächte entfernt, dass China sich auf Einfrieren oder gar Reduzierung nicht einlassen könne. Wenn überhaupt, müssten auch andere Atomstaaten wie Großbritannien und Frankreich dabei sein.
Tatsächlich steht China trotz großer Anstrengungen erst auf einer Stufe mit den beiden europäischen Atombombenbesitzern. Rüstungsexperten schätzen die Zahl der chinesischen Sprengköpfe auf etwa 300 – Frankreich hat 290. Die USA und Russland horten das Zwanzigfache an Sprengköpfen jeder Art, Trägerwaffe und Größe. Nicht nur die chinesische Regierung hegt deshalb den Verdacht, dass in Washington die China-Karte nur als Vorwand dient, um die Wiener Gespräche platzen zu lassen.
Eine andere Forderung, die der US-Gesandte Billingslea im Vorfeld vorbrachte, erscheint dagegen prinzipiell plausibel. Russland modernisiere unterhalb der „New Start“-Schwelle Tausende seiner Atomwaffen. Es verfolge obendrein eine „extrem provokante atomare Doktrin“, die in einem Konflikt den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen einschließe. Deshalb könne es nicht nur um die alten Waffentypen gehen; ein neuer Vertrag müsse auch andere Atomsysteme umfassen.
Das Problem sehen auch Experten wie der Sicherheitspolitiker Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Der Oberst a.D. legte neulich dem Unterausschuss Abrüstung des Bundestages dar, wie neue Waffentypen und Technologien das alte Verständnis von „strategischer Stabilität“ infrage stellen.
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Bei „New Start“ ging man noch von der Annahme aus, dass Atomwaffen dazu da sind, nie eingesetzt zu werden. Doch in russischen Strategiezirkeln ist mehrfach ein „deeskalierender Atomschlag“ erörtert worden – ein begrenzter Atomangriff während eines konventionellen Überfalls, der den Überfallenen an den Kapitulationstisch zwingen soll.
Russland versichert, das sei nicht Teil seiner Militärdoktrinen. Aber der Gedanke ist in der Welt und passt zu technisch-militärischen Entwicklungen der letzten Jahre. War „strategisch“ lange durch Reichweite und Megatonnen Sprengkraft definiert, bedrohen heute Cyberattacke und Satellitenabwehr, Drohnen und „Mini“-Atombomben die Stabilität weltweit. Ein Nachfolgeabkommen für „New Start“ müsste diese neuen strategischen Instrumente berücksichtigen.
Doch der Wiener Verhandlungstisch, warnt SWP-Forscher Richter, wäre damit in den wenigen Monaten bis Februar 2021 völlig überlastet. Besser wäre, den Vertrag zu verlängern und die gewonnenen fünf Jahre zu nutzen. Das wichtigste aber, findet der Experte, wäre ein symbolischer Akt der Abrüstung: „Ein erneutes Bekenntnis zum gemeinsamen Statement der Präsidenten Gorbatschow und Reagan, dass nukleare Kriege nicht gewonnen werden können und niemals geführt werden dürfen."