Streit um Rolle der Grünen beim Aufstieg der AfD: Trittin kontert Kretschmann
Betreiben die Grünen Politik durch "Moralisieren" und mit "Besserwisser-Gestus"? Der einzige grüne Ministerpräsident warnt genau davor.
- Hans Monath
- Antje Sirleschtov
Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) provoziert mit kritischen Äußerungen über seine eigene Partei Widerspruch aus den eigenen Reihen. Kretschmann hatte die Grünen in der "Zeit" vor "Moralisieren" und "Besserwisser-Gestus" gewarnt. "Wir sind keine Heiligen und werden es auch dann nicht, wenn man uns dazu machen will", schreibt der Grünen-Politiker in einem Gastbeitrag für die "Zeit": "Wir sollten daher das Moralisieren lassen. Anstatt Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen, sollten wir uns auf den Kampf für eine gute Ordnung der Dinge konzentrieren." Seiner Partei empfiehlt der der einzige grüne Ministerpräsident: "Wir müssen eine neue Tonlage finden, getragen von Klarheit und Respekt." Zugleich warnt er vor einer Haltung der Bevormundung: "Anstatt Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen, sollten wir uns auf den Kampf für eine gute Ordnung der Dinge konzentrieren“, schreibt der Politiker.
Kretschmann, dessen Partei in Baden-Württemberg inzwischen mit der CDU regiert, räumte ein, dass seine Partei indirekt zum Aufstieg der AfD beigetragen habe. Grüne Ideen wie die Gleichstellung von Mann und Frau und alternative Familienmodelle seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen, doch gebe es auch Modernisierungsverweigerer. Bei ihnen entstehe aus Überforderung das Gefühl des Kontrollverlusts und die Sehnsucht nach der alten Ordnung. Deshalb müssten die Grünen deutlich machen, „dass die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot und keine Vorgabe sind“.
Sein Parteifreund Jürgen Trittin warf Kretschmann vor, die Argumente der AfD zu bestätigen. Kretschmann stelle zu Recht fest, dass es Aufgabe von Politik sei, für einen gerechten Ordnungsrahmen zu sorgen, sagte der Ex-Umweltminister dem Tagesspiegel. "Warum aber denunziert er dann den von Grünen geschaffenen Ordnungsrahmen für eine offene Gesellschaft als Ursache für den Aufstieg der AfD?", fragt Trittin und kommt zu dem Schluss: "Er bestätigt so deren scheinheilige Rechtfertigungen für ihre Menschenfeindlichkeit."
Unterstützung kam dagegen vom grünen Oberbürgermeister Tübingens, Boris Palmer. "Ich kann das inhaltlich voll unterschreiben", sagte er. Die Grünen hätten als "Gegenpol zur AfD" eine Verantwortung für den Umgang mit der Partei. "15 bis 20 Prozent der Wähler darf man nicht beschimpfen, ausgrenzen, herabsetzen oder für dumm erklären", meinte Palmer: "Leider tun das manche Grüne allzu oft." Seine Partei müsste um die Wähler der AFD "in einem verbindlichen und sachlichen Ton werben".
Seine Thesen zur Familie musste Kretschmann später genau erläutern
Kritik aus den eigenen Reihen hatte der Ministerpräsident auch dadurch auf sich gezogen, dass er in seinem Zeitungsbeitrag die klassische Ehe verteidigt. Inzwischen bemüht er sich aber darum, seine Position zu erläutern. Die Grünen wollen den den traditionellen Ehebegriff aufbrechen und unterschiedliche Familienformen gleich behandeln. Kretschmann warnte dagegen in seinem Zeitungsbeitrag: "So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen - und das ist auch gut so." Daran störten sich vor allem die Vorkämpfer von Homosexuellen-Rechten in den Reihen der Grünen. "Die klassische Ehe ist in Ordnung. Genauso gut sind die Ehe zwischen zwei Männern oder zwei Frauen, das nichteheliche Zusammenleben mit oder ohne Kinder", sagte Volker Beck der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Familie ist da, wo Kinder sind. Und da gibt es in Deutschland eine große Vielfalt. Und die Vielfalt ist auch gut so."
Die Parteivorsitzende der Grünen, Simone Peter, wollte dagegen keinen Gegensatz zwischen den Äußerungen Kretschmanns zur Familie und der Haltung ihrer Partei erkennen. "Wir Grüne haben uns immer für die Akzeptanz vielfältiger Lebensmodelle eingesetzt, von der Patchwork-Familie bis zur Homo-Ehe", sagte Peter dem Tagesspiegel. Menschen, die füreinander Verantwortung übernehmen, hätten Respekt und die Unterstützung des Staates verdient, egal ob mit oder ohne Trauschein. "Das hat auch Winfried Kretschmann heute noch einmal bekräftigt - und das ist auch gut so", sagte die Grünen-Politikerin.
Peter bezog sich auf den Umstand, dass Kretschmann seine Haltung am Donnerstag in einem Facebook-Eintrag erläuterte. Darin schreibt er: "Ich bedauere, dass eine Passage in meinem Namensbeitrag für die ,Zeit' offenbar für einige Menschen missverständlich war. Deshalb möchte ich den Sachverhalt klarstellen. Meine Haltung war und ist eindeutig: Ich möchte die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Homosexuelle Paare sollen genauso wie heterosexuelle Paare heiraten können. Auch deshalb hatte ich als Ministerpräsident zwei Bundesratsinitiativen gestartet, um die Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule zu ermöglichen." Die Ehe für alle sei und bleibe sein politisches Ziel, versicherte der Ministerpräsident.