Martin Luther King: Traumdeutungen
Das war der erstaunlichste Tag in meinem Leben, sagt David Palmer. Er war als Ordner eingeteilt, als Martin Luther King seine berühmte Rede hielt. 50 Jahre danach will er an genau derselben Stelle dem ersten schwarzen Präsidenten zuhören.
Woche um Woche hatte er dafür trainiert. In einem Rollenspiel ließ er sich als „Nigger-Freund“ beschimpfen und als „verdammter Kommunist“. Seine eigenen Freunde stießen ihn, warfen ihn zu Boden. Er wurde bespuckt. Das alles, um am entscheidenden Tag ruhigzubleiben. Denn eines war ganz klar: Zurückschlagen ist keine Option. Das musste erst einmal gelernt werden. Man wusste ja nicht, was passieren würde. Der 28. August 1963 war ein heißer, trockener Sommertag in Washington. Bei knapp 30 Grad und strahlendem Sonnenschein strömten 250000 Menschen, mehrheitlich Schwarze, ins Zentrum der amerikanischen Hauptstadt. Busse hatten sie aus allen Teilen des Landes hergefahren – aus Alabama und Chicago, aus Kalifornien und New York. Ihr Ziel: das Lincoln Memorial am westlichen Ende der Washingtoner Mall.
Demonstranten tauchten ihre müden Füße in das Bassin vor dem Denkmal, Helfer boten Wasser an. Wer konnte, hatte sich einen Platz unter den Bäumen gesucht. Und überall lachten und sangen die Menschen. So erinnert sich David Palmer. Palmer, 76 Jahre alt, war einer von etwa 60000 Weißen, die mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auf die Mall gezogen waren. Als einer von 2000 Ordnern würde er dafür sorgen, dass der größte Protestzug der amerikanischen Geschichte ein Erfolg werden konnte. Wochenlang hatte sich der engagierte Gewerkschaftler auf diesen großen Tag vorbereitet.
Die „Anti-Aggressions-Programme“, in denen die eigenen Freunde ihn provozierten, gehörten dazu. Niemals hätte Palmer damals gedacht, dass je ein schwarzer Mann Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Dass dieser Präsident sich am morgigen Mittwoch auf genau jene Stufen des Lincoln-Memorials in Washington stellen würde, auf denen vor 50 Jahren ein anderer schwarzer Mann stand und von seinem Traum erzählte: „I have a dream.“ Es ist, als ob sich mit der Wahl von Barack Obama für Palmer endlich erfüllte, was er an jenem Mittwoch kaum zu hoffen gewagt hatte. „Ich dachte, die Welt werde nach dem Marsch eine andere sein.“ „Unzählige Millionen von Akra bis Sansibar wandten ihre Augen nach Washington“, wie die „Washington Post“ damals pathetisch schrieb, als Martin Luther King Jr. am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial jene Rede hielt, die ins Gedächtnis der Welt eingegangen ist als der Anfang vom Ende der Rassentrennung in Amerika. Für ein friedliches Zusammenleben in den USA war dieser Tag vielleicht der wichtigste seit dem 1. Januar 1863, als die Emanzipationserklärung Abraham Lincolns aus schwarzen Sklaven freie Menschen gemacht hatte.
Das Denkmal des ehemaligen Präsidenten im Rücken, beschwor auch der erst 34-jährige Baptistenprediger King Lincolns große Tat. Den „freudigen Tagesanbruch, der die lange Nacht der Gefangenschaft beenden sollte“. Und doch seien die Schwarzen noch immer nicht frei. Palmer stand keine 100 Meter entfernt, unter den Bäumen der Mall. „Ich hatte meinen Blick auf die Bühne gewandt und habe sie alle gesehen, King und John Lewis und die anderen. Es war der erstaunlichste Tag in meinem Leben.“ Palmer ist heute ein schmaler alter Mann. Noch immer hört man seinen britischen Akzent. Palmer wurde in England geboren, wanderte später in die USA aus, deren Staatsbürger er seit 1968 ist. Nach den Ereignissen der 60er Jahre holte Palmer eine College-Ausbildung nach und arbeitete lange Jahre für eine Eisenbahnbaugesellschaft. Er war bei der Firma dafür zuständig, dass die Gleichberechtigungsgesetze, die nach dem Marsch auf Washington in Kraft getreten waren, in der Arbeitswelt auch umgesetzt wurden. 28 Prozent Schwarze sollten beschäftigt werden, das war seine Vorgabe. Die Geschichte des Kampfes beschäftigt ihn noch heute.
Doch angefangen hatte alles mit Pat. Und mit dem Satz: „Willkommen im weißen YMCA.“ Als Anfang der 40er Jahre deutsche Bomben auf London fielen, war es noch relativ sicher in dem kleinen Ort Aldbourne, 70 Meilen westlich der britischen Hauptstadt, wo Palmer geboren worden war und mit seiner Familie lebte.
Bald mischten sich Evakuierte aus London unter das Landvolk. Pat, das war der Sohn „eines Vaters von den Bermuda-Inseln und einer englischen Mutter“, erinnert sich Palmer an seine erste Begegnung als Fünfjähriger mit einem Jungen schwarzer Hautfarbe. Pat wurde David Palmers Freund – und blieb es auch, als der längst in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Eine seiner ersten Erfahrungen in den USA machte er beim „Christlichen Verein junger Männer“ (YMCA) in Baltimore. „Willkommen beim weißen YMCA“, wurde er begrüßt. Und er dachte sich: „Pat dürfte hier also nicht mit hin.“ Er, aufgewachsen als Methodist in England, habe stets gedacht, „dass das Christentum für Gerechtigkeit steht“. Baltimore habe ihm die Augen geöffnet. Mit Abscheu blickten sie dort auf Washington: zu viele Schwarze. Palmer zog weiter, von Baltimore in den District of Columbia, und tauchte als Weißer ein in die schwarze Gesellschaft rund um die Washingtoner U-Street. Dort, wo es heute immer schicker und immer hipper wird, an der 14ten Straße Ecke U-Street, wo sich mittlerweile Café an Café reiht, verkaufte 1963 noch ein kleiner „Safeway“-Shop Lebensmittel an eine fast ausschließlich schwarze Bevölkerung. Palmer schnitt dort das Fleisch auf. Die Metzger bei „Safeway“ waren alle weiß. Und sie waren keine „Negro-Lover“, wie sie David Palmer verächtlich nannten. Trotzdem hörte er nicht auf, sie zu nerven, diskutierte mit ihnen über die Rechte der Schwarzen. Seine Freunde suchte er sich außerhalb. In den Läden nebenan arbeiteten fast nur Schwarze. Zu ihnen ging er in den Pausen oder nach der Arbeit. Sie brachten ihm Schimpfworte bei, die kein Weißer verstand. Für ihn war damals, als in allen US-Bundesstaaten die Rassentrennung noch legal war, das schwarz-weiße Zusammenleben Alltag. Sie mieteten sich zu dritt ein Haus, ein Weißer, zwei Schwarze. Und bei den Young Christian Workers, zu denen ihn ein Freund mitgenommen hatte, versammelten sich ebenfalls Menschen unterschiedlichster Hautfarbe. In Washington habe er endlich Leute getroffen, die seine Ansichten teilten. „So bin ich zur Bürgerrechtsbewegung gestoßen.“ Während andere Freiwillige 80000 Käsebrote schmierten, 292 Toiletten aufstellten, 21 transportable Wasserspender durch die Stadt bewegten und 22 Erste-Hilfe-Räume aufbauten, sammelten sich Palmer und seine Freunde früh am Morgen der Demonstration an der Mall. Sie liefen die Constitution Avenue entlang, immer auf der Hut vor Störern oder Angreifern und doch voll Euphorie. „We shall overcome“, haben wir den ganzen Tag gesungen, „wieder und wieder“, erzählt Palmer.
Noch heute merkt man ihm die Freude von damals an. Aufgehoben in der Menge, einig im Sehnen nach einem Ende der Ungerechtigkeit. „Wir gehörten zusammen, das war unser Gefühl.“ Als einer der Ordner war auch David Palmer auf alles vorbereitet an diesem Tag. Ihre oberste Devise war: Es muss friedlich bleiben. Denn die erklärt gewaltfreien Bürgerrechtler mussten immer mit Angriffen von Rassisten oder Schlägen aus den Reihen der Polizei rechnen. Erst kurz vorher, im Mai 1963, war eine Demonstration in Birmingham, Alabama, brutal von der Polizei beendet worden. Palmer und die anderen Männer wurden deshalb im Vorfeld trainiert, um die Marschierenden zu schützen, sie im Zweifel aber auch von Gewalt abzuhalten. David Palmer, obwohl kein Mann mit Kämpferstatur, war einer der ganz wenigen Weißen unter den Ordnern.
Vincent, Palmers Mitbewohner, war beim Marsch auch mit dabei. Nur der dritte Mitbewohner, der war lieber ins Grüne gefahren und aus der Stadt geflohen wie viele andere Washingtonians, vor allem Weiße. Es wusste ja niemand, was zu erwarten war. Das Pentagon hatte Truppen in Bereitschaft versetzt. Sollte der Marsch der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in Gewalt münden, würde man tausende Soldaten auf die Mall schicken. Auch die Organisatoren und die Ordner standen unter großer Anspannung. „Wir wussten ja, nicht, welche Art von Gegnern auf der Straße sein würde“, erzählt Palmer. „Aber es ist friedlich geblieben.“ Als dann am Abend Präsident John F. Kennedy die sechs Redner, Vertreter jeweils einer Bürgerrechtsorganisation, ins Weiße Haus geladen hatte, „da waren wir überzeugt, dass sich die Welt für Menschen afrikanischer Abstammung für immer verändern werde. Das hat sich natürlich als Irrtum herausgestellt.“ Auch nach der Anerkennung der Bürgerrechte für Schwarze durch die Johnson-Administration 1964, nach den Gesetzen zur Förderung der Gleichberechtigung, sind die Vereinigten Staaten heute noch immer ein Land, in dem Rassen-Ungerechtigkeit ein großer sozialer Faktor ist.
Eine aktuelle Untersuchung des renommierten Pew-Instituts kommt zu dem Schluss, dass wirkliche Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zwischen Schwarz und Weiß noch weit entfernt liegen. Nur 45 Prozent der befragten Amerikaner sagen der Studie zufolge, dass das Land fünf Jahrzehnte nach dem Marsch auf Washington substanzielle Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung gemacht habe. „Kings Traum bleibt ein schwer erreichbares Ziel“, lautet der Titel der Studie. Und auch wenn sich Schwarze und Weiße heute gesellschaftlich anders gegenüberstehen als damals; auch wenn es immerhin ein Fortschritt ist, dass heute nur noch 28 Prozent der schwarzen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt im Vergleich zu 56 Prozent in den 60er Jahren; auch wenn der Bildungsanteil der Schwarzen enorm gestiegen ist – noch immer ist die ökonomische Ungleichheit eklatant. Ein schwarzer Haushalt hat heute etwa 59 Prozent des Einkommens eines weißen Haushalts zur Verfügung. 1967 waren es 55 Prozent. Während 1960 noch fünfmal mehr Schwarze als Weiße im Gefängnis saßen, sind es jetzt sechsmal so viele.
Will man das Fortschritt nennen? Beides, schrieb der US-Historiker Maurice Jackson in einem Essay in der „Washington Post“, „ist Realität: Präsident Obama und Trayvon Martin“, jener 17-jährige Schwarze, der am 26. Februar 2012 in Sanford im Bundesstaat Florida vom Nachbarschaftswächter George Zimmerman erschossen wurde. Zimmermans Freispruch vom Vorwurf des Mordes im Juli folgten landesweite Proteste. Barack Obama stellte sich vor die Kameras und sagte, Trayvon Martin, „das hätte ich vor 35 Jahren sein können“.
Die Geschichte der Ungerechtigkeit der Justiz gegenüber Schwarzen gehe eben nicht so einfach vorbei, verteidigte er die empörten Reaktionen der schwarzen Bevölkerung. Wenn David Palmer die Zeit damals mit heute vergleicht, dann sagt er: „Es ist nicht perfekt, sicher. Aber es ist verdammt viel besser.“ Natürlich habe Barack Obama nur gewählt werden können, weil seine Mutter eine Weiße war. Aber immerhin, er habe gewählt werden können. Das allein schon macht den alten Mann glücklich. Damals, noch bis in die 70er Jahre, habe er Rassismus selbst so oft zu spüren bekommen. In der Bürgerrechtsbewegung lernte er seine Frau Gabrielle kennen, eine Schwarze aus Haiti. 1970 zog die Familie mit zwei kleinen Kindern in das Haus im Nordwesten Washingtons, in dem sie heute noch lebt. Es war auch damals schon eine sehr gepflegte, sehr freundliche und sehr weiße Nachbarschaft. „Am Tag nachdem wir eingezogen waren, haben unsere weißen Nachbarn ihr Haus zum Verkauf angeboten.“ Am Mittwoch wird David Palmer gemeinsam mit seinem alten Freund Vincent zum Lincoln Memorial gehen. Die Constitution Avenue entlang. Wie vor 50 Jahren. Er freut sich auf Obama – und will genau an derselben Stelle stehen wie vor 50 Jahren. Er mag solche Sachen.