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Das Zentrum von Kairo wirkt wie ausgestorben.
© dpa

Ausnahmezustand in Ägypten: Totenstadt Kairo

Straßensperren, gespenstische Stille, die Luft riecht nach Tränengas. Die Metropole Kairo ist auf einer Taxifahrt durch die Nacht kaum wiederzuerkennen. Am nächsten Morgen zeigt sich aber erst das wahre Ausmaß der Zerstörung. Angesichts des Chaos verlieren selbst die Verantwortlichen nun die Nerven. Eine Reportage.

Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen, schon beim Anflug nicht. Kairo wirkt abweisend ohne die roten und weißen Endlosbänder der Autolichter. Die Straßen glitzern leer und pechschwarz im Schein der Laternen. Ab und zu ist ein vereinzeltes Fahrzeug auszumachen, das sich durch das Dunkel tastet.

In der hellen Flughafenhalle hingegen tobt das Chaos. Hunderte Ankömmlinge müssen die Nacht auf dem Flughafen verbringen, ihre Wohnungen in Giza oder den Trabantenstädten auf der anderen Seite des Nils sind erst einmal unerreichbar. Männer umringen die Stände der Taxifirmen, Familien mit Kindern schlafen auf den silberfarbenen Metallbänken der Ankunftshalle. Zwischen ihnen läuft ein Mitarbeiter von Egypt Air umher und verteilt „Erfrischungsgetränke und warme Mahlzeiten“ aus den Beständen der staatlichen Fluglinie.

Es ist die Nacht des Zorns. Zwischen 19 Uhr abends und 6 Uhr früh herrscht absolute Ausgangssperre, nicht nur in Kairo, auch in Alexandria sowie den oberägyptischen Städten im Niltal und im Nildelta. Die Straßen sollen nach dem Willen der Armeeführung allein Polizei und Militär gehören, die sich heute trotzdem bis spät in die Nacht im Zentrum rund um den Ramses-Platz bewaffnete Kämpfe mit Anhängern des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi liefern. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sterben allein an diesem „Freitag des Zorns“ wieder mehr als 170 Menschen, darunter der Enkel des Muslimbrüder-Gründers Hassan al Banna sowie der Sohn des heutigen Chefs Mohamed Badie.

Das schlimmste Massaker in der modernen Geschichte Ägyptens

Draußen, vor dem Flughafen, herrscht in der brütenden Nachthitze gespenstische Stille. Einzig Reisenden, die vom Flughafen nach Hause oder ins Hotel wollen, ist es offiziell erlaubt, sich per Taxi durch die völlig leeren Straßen zu bewegen. Brücken und Hochstraßen, von denen aus Kasernen oder Armeegebäude eingesehen werden können, sind komplett gesperrt. Immer wieder sieht man festgenommene junge Männer, die Hände auf dem Rücken gefesselt und bewacht von Soldaten, auf Grünstreifen hocken. Nächtliche Bürgerwehren mit Knüppeln, Eisenstangen und Motorradhelmen haben sich an den Zufahrten zu ihren Wohnvierteln postiert und verwehren jedem fremden Wagen die Durchfahrt. Alle 500 bis 1000 Meter stehen Soldaten an Straßensperren.

Ausgelöst durch das schlimmste Massaker in der modernen Geschichte Ägyptens am vergangenen Mittwoch mit mindestens 630 Toten und 4000 Verletzten gerät die Lage praktisch Stunde für Stunde weiter außer Kontrolle. Die ganze Nacht liegt eine Dunstwolke aus Brandgeruch und Tränengas über der Innenstadt, nachdem am Freitag ausgerechnet die zentrale Blutbank des Landes nahe dem Ramses-Platz durch die Kämpfe in Brand geraten war.

Vor der zentralen Auffahrt zur achtspurigen Stadtautobahn Richtung Nil stauen sich plötzlich Dutzende von Autos aus allen Himmelsrichtungen, von denen die meisten ohne Sondererlaubnis unterwegs sind. Der zuständige Offizier, ein baumlanger Kerl mit kahl geschorenem Kopf, bleibt hart. Sie alle müssen umkehren, ihnen bleibt der Weg in die Innenstadt versperrt. Immer wieder läuft der Offizier wie ein Schiedsrichter, der eine rote Karte verhängt hat, ein Stück vor der laut protestierenden Menge davon. „Ich wollte nicht im Auto schlafen und dachte, das klappt vielleicht“, sagt der Chauffeur eines Hochzeits-Mercedes in der Schlange, noch voll behangen mit den üblichen Blumengebinden aus Plastik. Die Trauung war vor Monaten geplant, kurz vor der Sperrstunde machte sich die Familie auf den Heimweg, Gäste von auswärts schliefen im Hotel. Das Brautkleid aus blütenweißem Tüll, praktischerweise gleich zusammen mit der PS-starken Hochzeitskutsche ausleihbar, nimmt den gesamten Rücksitz ein. Zwei Fahrzeuge weiter stöhnt eine Frau vor Schmerzen, ihre Begleiterin fächert ihr Luft zu und schimpft gleichzeitig mit gestrecktem Zeigefinger in Richtung der Soldaten. Die rühren aber keine Miene hinter ihren Schilden und so müssen am Ende auch diese beiden umkehren.

Banken und Geschäfte in Kairo werden ausgeraubt, Museen geplündert

Doch nicht alle wollen sich von dem eskalierenden Chaos einschüchtern und lähmen lassen. Ein Dutzend Jugendliche nutzt die autofreie Nacht auf der Nil-Corniche in Dokki für ein mitternächtliches Fußballmatch auf dem Asphalt. Über ihnen auf der total verwaisten achtspurigen Nilbrücke turtelt ein junges Paar am Straßenrand in seinem kleinen Auto, während auf der Gegenfahrbahn zwei junge Soldaten in beigen Kampfanzügen und mit Sturmgewehr vor der Brust auf- und abschlendern. „Wir haben nichts gesehen“, grinst der eine – dann winkt er lachend das Taxi durch.

Am Samstag wird das ganze Ausmaß der Zerstörung rund um den Ramses-Platz erst richtig sichtbar, aufgerissene Dächer, ausgebrannte und geplünderte Läden, die Gassen übersät mit Steinen, Glassplittern und geborstenen Knüppeln. Hier steht der Hauptbahnhof der Stadt, durch diesen Teil Kairos führt die wichtigste Verkehrsader der 25-Millionen-Metropole. Rund um den Ramses-Platz befinden sich unter 19.-Jahrhundert-Arkaden die Handwerksstraßen der Möbelschreiner, Badausstatter und Werkzeughändler.

Tausende aufgebrachte Anwohner belagern am Sonnabend die nahe Al-Fateh-Moschee, um Rache zu nehmen an den Brandstiftern, die sie unter den 1000 im Inneren Eingeschlossenen vermuten. Am Nachmittag nehmen Soldaten die Minarettspitze unter Feuer, weil sie hoch oben Bewaffnete vermuten, während sich die Eingeschlossenen in Todesangst hinter den Säulen des Gotteshauses ducken. Wenig später melden die Sicherheitsbehörden, dass die Moschee weitgehend geräumt sei.

Gehen den politisch Verantwortlichenlangsam die Nerven durch?

Längst ist die Gewalt auch in die Verästelungen der Wohnviertel vorgedrungen, wird immer tückischer und unberechenbarer. Den politisch Verantwortlichen am Nil scheinen angesichts der anarchischen Zustände im ganzen Land langsam die Nerven durchzugehen. „Diese Leute hissen die Flagge von Al Qaida im Herzen von Kairo und schießen mit Maschinengewehren auf Zivilisten. Wir appellieren an die westlichen Nationen, endlich zu begreifen, was hier vorgeht. Keine Regierung der Welt würde das inmitten ihrer Hauptstadt akzeptieren“, ruft der Sprecher des ägyptischen Außenministeriums, Bader Abdel Atty, am Sonnabend in die Mikrofone. Seine Stimme überschlägt sich bis an den Rand der Hysterie. Ägypten werde jede internationale Einmischung zurückweisen, schimpft er. „Das ist die Revolution vom 30. Juni und dies ist der Wille des Volkes.“

Am Sonnabend räumten Sicherheitskräfte die besetzte Fatah-Moschee.
Am Sonnabend räumten Sicherheitskräfte die besetzte Fatah-Moschee.
© Reuters

Auf den Straßen schießen Sicherheitskräfte kaltblütig auf Demonstranten, Menschen gehen mit Pistolen, Macheten und Messern aufeinander los, Geschäfte stehen in Flammen. Reihen von Toten liegen in weißes Leinen gehüllt sogar in Moscheen aufgebahrt. Verletzte krümmen sich blutend auf den Gebetsteppichen. In Teilen der Hauptstadt haben bewaffnete Bürgerkomitees das Recht in die eigenen Hände genommen. Nächtliche Schusswechsel hallen selbst durch die gehobenen Wohnviertel von Kairo wie Zamalek und Dokki, wo die meisten der ausländischen Botschaften liegen. Kriminelle nutzen das Sicherheitsvakuum, im mittelägyptischen Beni Suef wurden an einem Tag sechs Banken ausgeraubt, in Minia das Museum geplündert.

Mordlustige Polizisten, dubiose Bewaffnete in Zivil und ganz „normale“ Verbrecher stehen auf der einen Seite. Aber auch der Führung der hierarchisch organisierten und disziplinierten Muslimbruderschaft gleiten die Zügel zunehmend aus der Hand. Ihre Basis sucht eigene Wege der Rache, zudem scheinen in den letzten Tagen erstmals auch zu allem entschlossene Terroristen aus dem Sinai nach Kairo gekommen zu sein.

Die von der Armee eingesetzte zivile Regierungsfassade zeigt längst erste Risse. Als Erster trat am Mittwoch das internationale Aushängeschild der Übergangsführung, Mohamed el Baradei, zurück. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und Vizepremier Ziad Bahaa-el-Din spielt ebenfalls mit dem Gedanken, andere Minister bleiben offenbar seit Tagen ihren Ämtern fern.

„Ägypten kämpft gegen den Terrorismus“

Am Freitag warf der Sprecher der „Nationalen Rettungsfront“, Khaled Dawoud, das Handtuch. Er hatte im Namen des Oppositionsbündnisses in den letzten Wochen unermüdlich im Fernsehen die Absetzung Mursis gerechtfertigt, die neue vom Militär eingesetzte Politikerriege gepriesen und die Muslimbrüder verteufelt. Grund sei die Weigerung der „Nationalen Rettungsfront“, das Massaker vom Mittwoch zu verurteilen, schrieb er in seinem Rücktrittsbrief. „Ich will nicht Teil einer Partei oder eines politischen Bündnisses sein, das solche Untaten der Polizei für gerechtfertigt hält.“

Die ägyptische Presse dagegen, egal ob staatliche oder private Blätter, überschlagen sich ungehemmt mit Hasstiraden und Vernichtungsfantasien. Am Tag nach dem Mittwoch-Massaker wurde kein einziges der Bilder von der blutigen Räumung der Muslimbrüder-Camps auf der ersten Seite einer ägyptischen Zeitung gedruckt. „Wir sind alle wie gehirngewaschen, ich erkenne mein Land nicht wieder“, sagte eine junge Frau, die ihren Namen nicht nennen will.

„Wir wissen nun, wer Ägypten aufbaut und wer es niederbrennt“, wütete dagegen ein Kommentator in der Zeitung „Al-Masry Al-Youm“, in den Zeiten des Volksaufstands gegen Hosni Mubarak noch ein respektiertes Blatt. Die Muslimbrüder nennt er eine Terrorbande, denen das Schicksal Ägyptens völlig egal sei. „Denkt gar nicht erst daran, mit denen Gespräche zu führen. Zwingt sie in die soziale und politische Isolation. Ihr Platz ist das Gefängnis.“ Im Staatsradio erklärt eine sonore Stimme den ganzen Tag lang den Zuhörern: „Ägypten kämpft gegen den Terrorismus“, im Staatsfernsehen steht dieser Satz inzwischen als rotes Dauerlogo links oben eingeblendet. Am Nachmittag deklamiert dann der Sprecher von Übergangspremier Hazem el Beblawi, man werde fortfahren, den Terrorismus „mit eiserner Faust“ zu bekämpfen.

Martin Gehlen

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