Hassverbrechen: Thüringen will Fälle rechter Gewalt prüfen
Wissenschaftler sollen acht Tötungsdelikte auf politische Motive untersuchen. Den Anstoß gab eine Langzeitrecherche des Tagesspiegels.
Thüringen wird nach Informationen des Tagesspiegels offenbar alle mutmaßlich rechten Tötungsdelikte seit der Wiedervereinigung wissenschaftlich prüfen lassen. Am Donnerstag würden hochrangige Vertreter von Innen- und Justizministerium mit Abgeordneten aus den Fraktionen der rot-rot-grünen Koalition „über Umsetzungsmöglichkeiten“ sprechen, sagte die Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss (Linke). Es sei notwendig, dass Thüringen dem Beispiel Berlins und Brandenburgs folge. Das Innenministerium sagte, an dem Gespräch nehme Staatssekretär Udo Götze teil.
In Berlin und Brandenburg hatten Universitätsinstitute gemeinsam mit Polizei und Justiz eine weitgehend von dieser Zeitung recherchierte Liste mit Altfällen geprüft. Die Wissenschaftler werteten insgesamt 15 Delikte, bei denen 16 Menschen starben, als rechts motivierte Gewaltverbrechen. In Thüringen hat die Polizei seit 1990 nur ein vollendetes Tötungsdelikt als „rechts“ eingestuft. Es handelt sich um einen Fall in Arnstadt. Im Januar 1993 hatten Skinheads den ihnen verhassten Parkwächter Karl Sidon zusammengeschlagen und auf eine viel befahrene Straße geschleift. Das Opfer wurde von mehreren Autos überrollt.
Anstoß durch Berliner Prüfbericht
König-Preuss geht davon aus, dass weitere acht Fälle überprüft werden müssten. Die Politikerin dringt mit Abgeordneten von SPD und Grünen auf den baldigen Beginn einer wissenschaftlichen Untersuchung. Als Beispiel für die Notwendigkeit nannte König-Preuss den Fall Jana Georgi. Die 14-jährige Schülerin wurde im März 1998 in Saalfeld von einem ebenfalls jugendlichen Sympathisanten der rechten Szene erstochen. Er habe sich dafür rächen wollen, dass Georgi ihn „Fascho“ genannt hatte, sagte der Täter der Polizei. Das LKA bewertet den Fall bis heute als unpolitische Tat.
Den Anstoß zur Initiative von König-Preuss und weiterer Abgeordneter gab die Veröffentlichung des Berliner Prüfberichts Anfang Mai. Das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität hatte mitgeteilt, sechs Fälle mit sieben Toten müssten als rechts motiviert gewertet werden. Das LKA folgte der von ihm in Auftrag gegebenen Untersuchung, stufte die Delikte neu ein und meldete das Resultat dem Bundeskriminalamt. Damit stieg die offizielle Zahl der Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung auf 83. Doch auch dieser Wert entspricht offenkundig nicht der Realität. Die im Jahr 2000 begonnene Langzeitrecherche des Tagesspiegels ergibt eine Gesamtzahl von mindestens 150 Toten.
In Brandenburg hatte das Moses-Mendelssohn-Zentrum (MMZ) der Universität Potsdam zwei Jahre lang Altfälle analysiert. 2015 kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, neun Tötungsdelikte müssten als rechts motivierte Verbrechen eingestuft werden. Das MMZ und das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung wären mit ihrer speziellen Erfahrung auch für eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Thüringer Fälle „gut geeignet“, sagte König-Preuss.
Sonderfall Sachsen-Anhalt
Der nahezu bundesweit tätige Verband von Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hält es angesichts der Studien in Berlin und Brandenburg für notwendig, dass alle anderen Bundesländer mutmaßlich rechte Altfälle wissenschaftlich prüfen lassen. „Die Anerkennungslücke bei der tödlichen Dimension rechter und rassistischer Gewalt muss endlich geschlossen werden“, sagte Frank Zobel, Vorstandsmitglied des Verbands. Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigten, dass die offiziellen Zahlen „die Realität noch nicht einmal annähernd widerspiegeln“.
Ein Sonderfall ist allerdings Sachsen-Anhalt. Hier hatte Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) im Jahr 2012 Polizei und Staatsanwaltschaft veranlasst, neun Fälle aus der Tagesspiegel-Liste zu untersuchen. Die Behörden stuften drei Tötungsverbrechen als rechts motiviert ein. Dennoch hält Zobel auch in Sachsen-Anhalt eine zusätzliche Untersuchung für unverzichtbar.