Ratko Mladic: Tauziehen nach der Verhaftung
Er ermordete tausende Menschen und lebte doch lange unentdeckt. Nun wird er an das Jugoslawien-Sondertribunal in Den Haag ausgeliefert.
Die 3000 Einwohner zählende Gemeinde Lazarevo 80 Kilometer von Belgrad entfernt war bisher in Serbien praktisch unbekannt. Aus dem Dorf stammen nur ein bekannter Fußballer und eine Fernsehmoderatorin. Seit der Verhaftung von Ratko Mladic in einem Haus seines Verwandten am Donnerstag in den frühen Morgenstunden fand das Dorf sogar Aufnahme in die Weltpresse. Die meisten seiner Bewohner sind bosnische Serben; viele kamen bereits nach der Vertreibung der Volksdeutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Lazarevo. Herkunft ist am Balkan noch immer ein bedeutender Faktor – daher kann sich Ratko Mladic der ungeteilten Sympathie der Dorfbewohner sicher sein, denen noch dazu der Ansturm der Medien gehörig auf die Nerven ging. „Mladic heroj“ – „Mladic ein Held“ – diese Parole wurde auf einen Zettel geschrieben und auf die Ortstafel geklebt. Lazarevo soll auch in „Mladicevo“ umbenannt werden, forderten so manche Bewohner.
Wie lief die Verhaftung genau ab?
Der Zugriff der serbischen Sonderpolizei auf das Haus von Branko Mladic klappte reibungslos. Nicht nur die Dorfbewohner sondern auch Brankos Gast und Verwandter Ratko wurden überrascht. Der ehemalige General der bosnischen Serben, der für das Massaker von Srebrenica an etwa 7 000 Bosniern verantwortlich gemacht wird, hatte zwei Pistolen bei sich. Doch zum immer wieder heroisch angekündigten Selbstmord oder gar zum Widerstand blieb dem General keine Zeit. Friedlich, so die Polizei, ließ er sich verhaften und nach Belgrad bringen, wo durch eine DNS-Analyse seine Identität zweifelsfrei festgestellt wurde. Offen ist weiter die Frage, wie Polizei und Geheimdienste nach etwa fünf Jahren wieder auf Mladics Spur kamen. Der mutmaßliche Kriegsverbrecher soll sich bereits etwa zwei Wochen in dem Dorf aufgehalten haben, wo er unter dem Namen Milorad Komadic zeitweise lebte. Eine Zeitung schrieb, ein Informant der Polizei habe Mladic an seinem auffälligen Siegelring erkannt. Diesen Ring trug der General auch während des Krieges in Bosnien, so dass er auch einer breiten Öffentlichkeit auffallen und im Gedächtnis bleiben konnte.
Im eigenen Interesse wird die Regierung in Belgrad zu klären haben, warum sich Ratko Mladic so lange verstecken konnte. Seit Juni 2002 standen ihm Objekte der Streitkräfte nicht mehr zur Verfügung; bis Ende 2005 konnte er sich auf Helfershelfer stützen, die ihm Wohnungen unter anderem in Neubelgrad beschafften. Dieser Ring wurde zerschlagen, doch im Februar 2006 wurde Mladics Verhaftung warum auch immer versäumt. Bleibt eine Lücke von 2006 bis 2011, die es zu füllen gilt. Innenminister Ivica Dacic teilte mit, dass Mladic keine falsche Dokumente benutzte; das erhöht nur den Erklärungsbedarf, warum es dem Geheimdienst nicht gelungen ist dieses Kapitel zu schließen, das Serbien auf dem Weg Richtung EU so viel Zeit gekostet hat.
Ist Mladic zu krank für einen Prozess?
Im Gegensatz zum Siegelring dürfte sich Mladics Aussehen in den Jahren seiner Flucht stark verändert haben. Zwar wurde seit seiner Verhaftung bisher nur ein Foto veröffentlicht, doch auch Ermittler beschreiben Mladic als stark gealtert, kahlköpfig und schlanker als in den Jahren des Krieges. Als Folge eines Schlaganfalls soll auch eine Hand teilweise gelähmt sein. Die Darstellung des Gesundheitszustandes und die Auseinandersetzung darüber sind natürlich auch Teil des Kampfes um die öffentliche Meinung in Serbien und gegen die Auslieferung. Verteidiger, Frau und Sohn, die Mladic besuchten, verlangten seine Verlegung in ein Militärspital. Sohn Darko forderte eine unabhängige medizinische Untersuchung; zu diesem Zweck sollen zwei russische Ärzte bereits auf dem Weg nach Belgrad sein. Der Anwalt bezeichnete Mladic als eingeschränkt verhandlungsfähig. Dem widersprach die Pressesprecherin des Sondergerichts für Kriegsverbrechen. Zwar habe Mladic eine Reihe chronischer Krankheiten, doch sei er nach Angaben der Ärzte vernehmungsfähig. Bei seiner Einvernahme verweigerte Mladic im Belgrader Gericht die Entgegennahme der Anklageschrift des Haager Tribunals. Dabei soll er gesagt haben: „Ihr habt Slobodan Milosevic gewählt, nicht ich, wer ist also schuld.“ Zweifellos will Mladics Verteidigung die Auslieferung verzögern. Doch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Mladic bereits 69 Jahre alt ist und ein sehr bewegtes Leben, darunter den Selbstmord seiner Tochter, hinter sich hat. Auch dürfte seine medizinische Versorgung in den vergangenen fünf Jahren auf der Flucht nur eingeschränkt möglich gewesen sein. Den Auslieferungsbeschluss hat das Gericht jedenfalls bereits gefasst; Mladics Anwalt wird dagegen am Montag berufen und nach der Ablehnung der Berufung liegt die letzte Entscheidung beim serbischen Justizminister. Mladic dürfte somit bis Mitte nächster Woche an das Haager Tribunal ausgeliefert werden.
Was bedeutet die Verhaftung für Serbien?
Innenpolitisch kann die Koalitionsregierung unter Präsident Boris Tadic mit der Verhaftung von Ratko Mladic kurzfristig wohl kaum punkten. Der EU-Kandidatenstatus wird erst im Herbst kommen, und dieser Titel ist für die Masse der Bevölkerung viel zu theoretisch; erst ein konkretes Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen wäre etwas Greifbares. Bis dahin muss Serbien jedoch noch viele Reformen umsetzen, denn nach der Auslieferung Mladics werden konkrete Reformen immer wichtiger. Die Verhaftung und Auslieferung von Mladic sind bei der Masse der Serben keinesfalls populär. Nach einer jüngsten Umfrage sind 51 Prozent dagegen, 34 Prozent dafür und fast 80 Prozent hätten Mladic nicht verraten, hätten sie seinen Aufenthalt gewusst. Diese Haltung hat nur bedingt etwas mit „Heldenverehrung“ zu tun. Viele Serben sehen im Haager Tribunal nicht ganz zu Unrecht eine politische Institution, die mit doppeltem Maß misst. Denselben Vorwurf erheben auch viele Serben gegenüber der internationalen Gemeinschaft, der eine Politik der ständigen Erpressung vorgeworfen wird. Hinzu kommen die schlechte materielle Lage, das große Misstrauen allen Institutionen gegenüber und die ausgeprägte Unfähigkeit der EU, ihre großen Leistungen für Serbien auch zu verkaufen. Die EU ist mit großem Abstand der größte Geldgeber, doch Russland ist insgesamt populärer. Obwohl noch immer mehr als 60 Prozent der Serben für den EU-Beitritt sind, sehen sie darin eher einen Nutzen für ihre Kinder. Das Vertrauen in die Europäische Union ist alles andere als ausgeprägt.