Starkregen und Unwetter: Tauch noch einmal auf, Sommer!
Das Wetter ist die letzte große Demütigung des rationalen Menschen. Was können wir tun außer meckern? Auf der Suche nach dem Sinn verregneter Hoffnungen. Unser Blendle-Tipp
Ein Schlauchboot in der Yorckstraße. Berliner U-Bahn-Treppen als Wasserspiele mit Tendenz zum jungen Niagarafall. Surfer in der Potsdamer Innenstadt. Wer wusste schon, dass man von einem Straßenufer zum anderen auch schwimmen kann, dass Straßenbahnen verkannte Amphibien sind, oder wie es ist, in einem fahrenden Bus zu sitzen, in dem der Wasserpegel ständig steigt? Und das alles im Sonnenjahr des Hundertjährigen Kalenders!
„Der Sommer wird vielerorts zu trocken und heiß mit starken Abkühlungen und Gewittern dazwischen“, erklärte der Schweizer Wetterprophet Karl Hediger im Mai. Keiner seiner fünf Mitpropheten aus dem Muotathal widersprach, und auch Peter Suter, 90 Jahre alt, Wetterkönig und Inhaber des Wanderpreises für Langzeitprognosen, gab zu Protokoll: „Ich sehe den Sommer mit mehr schönen Tagen ...“ Das war im Mai. Im Dezember schon hatte sich der frühere Druckereibesitzer Josef Jägerhuber aus Bayern zu Wort gemeldet, wohnhaft am Starnberger See: Ein fulminanterer Sommer als der kommende sei kaum denkbar, bis Mitte August halte er gewiss an, „aber dann kommt ein Gewitter, und mit einem Schlag ist alles vorbei“. EIN Gewitter? Und war nicht schon alles vorbei, noch bevor es begonnen hatte? Oder dachte Jägerhuber gar nicht an die deutsche Einheit, bloß an Bayern?
Thomas Endrulat vom Deutschen Wetterdienst, Zweigstelle Potsdam, muss das aufklären. Aufklären, was für ein Wort! Ende des bewusstseinstrübenden Tiefdruckgebiets, die Sonne bricht durch: Logik, Klarheit, Vernunft, Sommer! Was also ist noch übrig vom Menschenrecht auf Sommer, vom „prima Klima“, an das wir uns schon fast gewöhnt hatten?
Der Soundtrack der stabilen Hochdruckgebiete
„Moment mal“, unterbricht der Meteorologe das Telefonkennenlerngespräch, zum Klima könne er gar nichts sagen, für das Klima sei er absolut unzuständig, er rede vom Wetter. Obwohl, fährt Endrulat mit leisem Bedenken fort, es das Wetter, streng genommen, gar nicht gäbe, genau so wenig wie den Sommer. Das ist der richtige Mann!
Also durch den Dauerregen laufen zum Güterfelder Damm 87 in Stahnsdorf. Hier hat der Deutsche Wetterdienst Potsdam sein Interims- und Ausweichquartier. Dauerregen? Das ist gewiss eher ein Frontregen, ein Starkregen. Hauptsache, da lauert keine Superzelle. Das sind diese Gewitterwolken mit bis zu einer Million-Tonnen-Wasser-Lebendgewicht. Starkregen. Seit Ende Juni gebrauchen auch ganz gewöhnliche Nichtmeteorologen dieses Wort. Sie sagen: „Bei dem Starkregen gestern...“, statt „Es goss wie aus Eimern.“ Und dazu tönt immer noch der Soundtrack der stabilen Hochdruckgebiete im Ohr: „35 Grad und es wird noch heißer/ komm' mach den Beat nie wieder leiser.“ Der Diskjockey in uns spielt grundsätzlich, was er will, unabschaltbar, beratungsresistent. Das ist die Flutwelle innen.
Thomas Endrulat ist im Gegensatz zum Wetter ein grundseriöser Typ mit leichter Tendenz zum Asketischen, betont korrekt gekleidet, weißes Hemd zu dunkler Hose, dabei schauen ihn den ganzen Tag lang eigentlich nur seine vielen Monitore an. Im Gegensatz zu den knorrigen Schweizer Wetterpropheten, die aussehen, als hätten sie ihr ganzes Leben an der Eiger-Nordwand verbracht, ist Endrulat der absolute Indoortyp. Einer von denen, die nie auf die Idee kämen, aus dem Fenster zu schauen, wenn sie wissen wollen, wie das Wetter wird.
Ein makelloser Sommer passt nicht zu uns
Wahrscheinlich hat er auch noch nie einen Ameisenhaufen oder Tannenzapfen beobachtet, um herauszufinden, ob es regnen könnte. Der Meteorologe macht ein dezidiert deeskalierendes Gesicht. Was heiße hier Regensommer? Dies sei ein Sommer mit viel Regen, sehr viel Regen, so wie das in unseren Breiten vorkommen kann. Aber um die „Breiten“ ginge es gar nicht, sondern um die Windbänder. Große Starkwindbänder schwingen um die Erde, erklärt Endrulat, und wir liegen nun einmal genau unter einem solchen Starkwindband, auch Strahlstrom oder Jetstream genannt, mit Windgeschwindigkeiten bis zu 600 km/h.
Aber sind diese Bänder nicht viel weiter oben, in zehn bis 18 Kilometer Höhe? Nachsichtig schaut der Mann der Wissenschaft. Schon richtig, der Ort der Ursache und der des Ergebnisses fallen nur selten zusammen; wäre es anders, wie viel Unglück auf der Welt könnte vermieden werden! Doch Thomas Endrulat nähert sich bereits der Schlussfolgerung: „Und genau weil die Steuerung stabil ist, kann das, was rauskommt, eben nicht stabil sein.“ Der Meteorologe spricht diesen Satz mit hörbarem Genuss. Wissenschaftler mögen es, wenn die Empirie Respekt zeigt vor der Theorie. Ein makelloser Sommer passt einfach nicht zu uns, so einer wie 2003 zum Beispiel.
Damals hatte die Freie Universität auf ihrer Drittmittelsuche gerade begonnen, Namenspatenschaften für Hoch- und Tiefdruckgebiete zu vergeben, und der Justizbeamte Pascal Simon aus Hegau im Hinterland des Bodensees legte seiner Frau am 24. Dezember 2002 ein ganz besonderes Geschenk unter den Weihnachtsbaum, nämlich die Patenschaft für das 39. Hochdruckgebiet des kommenden Jahres. Irritiert besah Michaela Simon die Urkunde. Am 1. August 2003 wurde das 39. Hoch offiziell getauft, und dann begann das große Schwitzen.
Flüsse zogen sich tief in ihre Betten zurück, längst vergessene Wracks tauchten wieder auf, die bloß liegenden Rheinufer wurden zur Sahelzone, bei Düsseldorf maß der Pegel mitunter nur noch 74 Zentimeter. Die Nordsee wurde zur Kinderbadewanne, die Bierumsätze brachen alle Rekorde, genau wie die Temperaturen. Orte, die die 40-Grad-Marke nicht schafften, galten als latent polarkreisverdächtig. Und Tag für Tag der gleiche blaue Himmel. Am Wetterforschungsinstitut Florenz wurde die Vermutung laut, der meteorologische Äquator habe sich um 20 Breitengrade nach Norden verschoben. Das war der gefeierte Jahrhundertsommer 2003! Doch schon bald galt er als Jahrhundertkatastrophe. 70 000 Menschen starben europaweit an der Dauerhitze, darunter 7000 Deutsche...
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Kerstin Decker