Carsten S. im NSU-Prozess: Taschenlampen-Geschichte könnte Zschäpe entlasten
Vor dem Oberlandesgericht in München weitet Carsten S. sein Geständnis aus. Dabei spricht er von einem möglichen, noch unbekannten Anschlag mit einer Taschenlampen-Bombe - von ihm soll Beate Zschäpe nichts gewusst haben.
Tränen fließen, die Stimme stockt. Carsten S. wischt sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab, manche Worte sind kaum zu verstehen, doch er redet weiter. Er will „reinen Tisch machen“, wie er zu Beginn der Befragung am Dienstagvormittag angekündigt hat. Und was der 33-jährige Angeklagte im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München dann sagt, lässt die mehreren hundert Zuhörer im Saal verstummen. Carsten S. weitet sein Geständnis, das er vergangene Woche vorgetragen hat, deutlich aus. Er belastet sich weiter selbst, auch den Mitangeklagten Ralf Wohlleben, er schildert womöglich sogar einen noch nicht bekannten Anschlag des NSU – und er entlastet, so scheint es, punktuell Beate Zschäpe.
Bei einem konspirativen Treffen mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Chemnitz hätten die beiden „spektakulär“ erzählt, „dass die in Nürnberg in einem Laden eine Taschenlampe hingestellt haben“, in einem Lebensmittelgeschäft. Als Zschäpe hinzugekommen sei, hätten Mundlos und Böhnhardt „psscht gesagt, damit die das nicht mitbekommt“.
Unbekannter oder nur versuchter Anschlag des NSU-Trios?
Abends sei ihm der Gedanke gekommen, sagt Carsten S. und weint wieder, Mundlos und Böhnhardt hätten in die Taschenlampe „Sprengstoff eingebaut oder so was“. Dann habe er das „weggedrückt“ und sich gesagt, „das war jetzt eine Ausnahme“.
Auf die bohrenden Fragen des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl sagt Carsten S. er habe nach der Bemerkung von Mundlos und Böhnhardt zu "Taschenlampe aufgestellt in einem Lebensmittelgeschäft in Nürnberg" an Sprengstoff gedacht wegen der Sprengstoffwerkstatt des Trios in Jena. In einer Garage, die Zschäpe gemietet hatte, fand die Polizei im Januar 1998 Sprengstoff, der zum Teil auch schon in funktionsfähige Rohrbomben verbaut war. Während der Razzia tauchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ab. Auf weitere Fragen des Richters, warum er die Taschenlampen-Geschichte nicht früher erzählt hat, gibt Carsten S. zu, schon Ende 2011 oder Anfang 2012 habe er sich an die Geschichte erinnert, "da hat es Blitz gemacht". Aber er habe sich nicht getraut, es zu erzählen - aus Sorge, die Eltern zu enttäuschen, und weil er Angst hatte, überhaupt mit dieser Geschichte konfrontiert zu werden.
Neue Aspekte im NSU-Prozess
Dass der NSU zwischen dem Gang in den Untergrund im Januar 1998 und dem Treffen in Chemnitz, vermutlich Anfang 2000, einen Anschlag mit Sprengstoff auf ein Lebensmittelgeschäft in Nürnberg verübt oder zumindest versucht haben könnten, ist neu. In der Anklage findet sich dazu nichts. Bislang ist nur bekannt, dass der NSU in Nürnberg drei Türken erschoss. Die dabei eingesetzte Waffe, eine Ceska 83, hatte Carsten S. in Chemnitz Mundlos und Böhnhardt übergeben.
Das erste Attentat in Nürnberg geschah allerdings im September 2000, also mindestens ein halbes Jahr nach der Zusammenkunft in Chemnitz. Auch der Sprengstoffanschlag auf ein iranisches Lebensmittelgeschäft in Köln kann kaum gemeint sein. Dort hatten Mundlos oder Böhnhardt im Dezember 2000 einen Christstollendose abgestellt, die mit Sprengstoff gefüllt war. Die Bombe explodierte, als im Januar 2001 die Tochter des Ladeninhabers die Dose öffnete. Die Frau erlitt schwere Verletzungen.
Taschenlampen-Geschichte könnte Beate Zschäpe entlasten
Sollte es zudem stimmen, dass Zschäpe bei dem Treffen in Chemnitz nach dem Willen von Mundlos und Böhnhardt nichts von der „Taschenlampe in Nürnberg“ erfahren durfte, hätte Carsten S. mit seiner Aussage zumindest punktuell die Hauptangeklagte entlastet. Die Verteidiger Zschäpes haben schon mehrfach angedeutet, es sei nicht auszuschließen, dass Zschäpe von den Morden, Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen, die Mundlos und Böhnhardt begangen haben, nichts wusste. Die Bundesanwaltschaft hält Zschäpe bei allen Verbrechen für die Mittäterin.
Belastet hat Carsten S. hingegen erneut den mitangeklagten Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben. Nach einem konspirativen Telefonat mit den untergetauchten Mundlos und Böhnhardt habe Wohlleben „gelacht und gesagt, die haben jemanden angeschossen“. Welche Tat das sein könnte, sagt S. nicht. Gemeint ist möglicherweise der erste Raubüberfall des NSU. Im Dezember 1998 hatten Mundlos und Böhnhardt gezielt auf einen Jugendlichen gefeuert, der sie bei der Flucht aus einem Supermarkt in Chemnitz verfolgte. Bei dem Überfall hatten die beiden Männer 30 000 D-Mark erbeutet.
Wohlleben soll zudem die Ceska 83, mit dem von ihm aufgeschraubten Schalldämpfer, auf S. gerichtet haben, bevor dieser sie nach Chemnitz brachte. Wohlleben habe auch da wieder gelacht, sagt S.. Dass er vergangene Woche die jetzt genannten Details ausgespart hatte, erklärte Carsten S. mit der Sorge, seine Eltern zu enttäuschen. Aber er wisse nun, „es geht nicht anders, ich muss alles sagen“. Zschäpe verschränkt meistens die Arme, Wohlleben betrachtet den weinenden S. mit einem betont interessierten Gesichtsausdruck.
Die Bundesanwaltschaft prüft nun einen Zusammenhang mit einer Explosion, die sich 1999 in einer Nürnberger Gaststätte eines türkischen Betreibers ereignet hat. Auslöser war eine mit Sprengstoff gefüllte Taschenlampe. Die “Nürnberger Nachrichten“ berichteten damals über den Fall. Bei der Explosion wurde ein 18-Jähriger leicht verletzt. Die Pilsbar gehörte dem Bericht zufolge einem türkischstämmigen Wirt.
Frank Jansen