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Versorger. Mohannad liefert seinen Verdienst bei der Mutter ab. Die hofft, ihn eines Tages doch auf eine Schule schicken zu können, wenn der Krieg in Syrien vorüber ist.
© Essa Al-Masri

Jordanien: Syrische Flüchtlinge - um die Jugend betrogen

Sie gehen nicht zur Schule, sie treffen keine Freunde, sie spielen nicht Fußball: In fast jeder zweiten syrischen Flüchtlingsfamilie in Jordanien ist ein Kind der Hauptverdiener. Eine Reportage aus Mafraq und Marka.

Morgens um halb sieben beginnt für Mohannad der Arbeitstag, er arbeitet in einem Haushaltswarengeschäft. Mohannad schleppt Kisten aus dem Lager und räumt Waren in die Regale, packt die Einkäufe der Kunden in Tüten, putzt den Laden, kocht Kaffee für den Chef. Abends um halb acht kommt er nach Hause, isst etwas, dann schläft er müde vor dem Fernseher ein.

Mohannad ist knapp 13, ein syrischer Flüchtlingsjunge in Mafraq, einer Stadt im Norden Jordaniens. Er hat drei jüngere Geschwister und einen Zwillingsbruder, vor zwei Jahren ist die Mutter mit ihren Kindern aus dem syrischen Homs ins Nachbarland Jordanien geflohen. Eine Flucht vor Krieg und Terror in ihrer Heimat, vom Vater der Kinder hat sie seitdem nichts gehört, vielleicht lebt er noch, vielleicht ist er tot. Nun ist Mohannad der Mann in der Familie. Schlaksig ist er, trägt Jeans und einen weiten Kapuzenpulli, hat Ringe unter den Augen. „Ich muss meiner Familie helfen“, sagt er. „Wir brauchen Geld für die Miete, für Strom und auch für Essen. Wenn ich nicht arbeite, dann reicht es nicht zum Leben.“

Es ist ein Samstag im Dezember, auf Mafraqs schmalen Innenstadtstraßen drängeln hupende Autos, Männer feilschen vor Geschäften, Frauen schimpfen mit quengeligen Kindern, Mohannad steht an seinem Knabber-Stand und wartet auf Käufer. Zwei, drei Kilometer weiter in einem Viertel am Stadtrand dösen Katzen und Ziegen in der Sonne, kleine Jungs kicken einen verbeulten Fußball über die Straße. Es riecht nach frischem Brot, in einer kleinen Bäckerei holt ein Junge goldbraune Fladen aus einem Steinofen. Hamdan heißt er, auch seine Familie stammt aus Homs, vor drei Jahren sind sie nach Jordanien geflüchtet.

„Er ist sehr jung, aber er ist fleißig und er lernt schnell.“

Hamdan hat vier Geschwister, er ist der älteste Sohn. 14 Jahre alt, strahlendes Lachen mit Zahnlücke, seine Haare sind grau vom Mehlstaub. Morgens um sieben kommt Hamdan zur Arbeit. Er heizt den Holzofen, knetet und formt den Teig, legt die Teiglinge aufs Blech, schiebt die fertigen Brote herunter, bedient die Kunden, fegt die Backstube. Abends um neun geht er nach Hause. Seit zwei Jahren arbeitet er in der Bäckerei, sieben Tage die Woche. „Hamdan macht hier alles“, sagt der Bäcker, sein Chef. „Er ist sehr jung, aber er ist fleißig und er lernt schnell.“

Hamdan und Mohannad sind zwei von tausenden syrischer Flüchtlingskinder in Jordanien, die nicht zur Schule gehen, sondern jeden Tag zur Arbeit. 2013 schätzte das jordanische Arbeitsministerium die Zahl der arbeitenden syrischen Kinder im Land auf 30 000. Mittlerweile sollen es 60 000 sein, damit wäre in Jordanien jeder fünfte Syrien-Flüchtling unter 16 ein Kinderarbeiter.

Schon vor dem Krieg trugen Kinder in Syriens ärmeren Familien zum Lebensunterhalt bei, vor allem Söhne verdienten neben der Schule mit Handlangerjobs Geld. Doch das Leben als Flüchtling in einem anderen Land hat aus Kindern Erwachsene gemacht – Jungen wie Hamdan und Mohannad sind heute die Versorger ihrer Geschwister und Eltern. In fast jeder zweiten syrischen Flüchtlingsfamilie ist ein Kind der Hauptverdiener, berichtet die Internationale Arbeitsorganisation ILO, die Jüngsten fünf Jahre alt, die meisten zwischen zwölf und 16.

Junge für alles. Hamdan ist Bäcker, er verdient fünf Euro pro Tag.
Junge für alles. Hamdan ist Bäcker, er verdient fünf Euro pro Tag.
© Essa Al-Masri

Sie arbeiten überall. Verkaufen an Ampeln Blumen und Tempos, kellnern und putzen in Cafés und Restaurants, sind Erntehelfer auf Farmen, Handlanger auf Baustellen, Schicht-Springer in Fabriken. Sie arbeiten zehn, zwölf Stunden am Tag; sechs, sieben Tage die Woche. Sie verdienen am wenigsten. Ein einfacher Arbeiter in Jordanien verdient etwa 15 Dinar pro Tag, ein illegal arbeitender Erwachsener bekommt für dieselbe Arbeit zwischen vier und zehn Dinar, ein Kind zwei bis fünf. Ein Dinar entspricht etwa einem Euro und fünfzehn Cent.

Kinderarbeit ist in Jordanien verboten. Laut Gesetz müssen Beschäftigte mindestens 16 Jahre alt sein. Bei Jobs, die „Heranwachsende gefährden, übermäßig ermüden oder ihrer Gesundheit schaden“ liegt das Mindestalter bei 18 Jahren. Die Kontrollen sind jedoch schwach, kritisiert die ILO. Zu wenig Personal, zu wenig Budget, begründet das jordanische Arbeitsministerium. Und was würden schärfere Kontrollen auch bringen? Letztlich brauchen die Flüchtlingsfamilien das Geld. Kinderarbeit ist daher kein Abschiebegrund. Stattdessen muss, wer Kinder beschäftigt, eine Geldstrafe zahlen – das immerhin bringt dann auch dem jordanischen Staat etwas ein.

Die Kinder müssen arbeiten, weil erwachsene Flüchtlinge nicht arbeiten dürfen

Ein effektives Mittel gegen Kinderarbeit wäre die Arbeitserlaubnis für erwachsene Flüchtlinge. Doch das hieße zugleich: Ihr dürft bleiben. Eine Botschaft, die Jordaniens Regierung scheut. Mit der Flüchtlingswelle aus Syrien fühlt sich Amman zunehmend überfordert, schon in den vergangenen Jahren hatte das kleine Königreich immer wieder zigtausende Menschen aus Krisengebieten wie dem Irak und Somalia aufgenommen.

In Jordanien dürfen Flüchtlinge offiziell nicht arbeiten, Ausnahmen sind selten und Genehmigungen teuer. Erwachsene Männer bleiben daher meist zu Hause. Auch Hamdans Vater, ein Elektriker, hat Angst, dass ihn die Polizei erwischt, nur bei Bekannten nimmt er hin und wieder einen Job an. Jede vierte syrische Flüchtlingsfamilie aber lebt ohne Ehemann und Vater, die Männer sind tot oder kämpfen in Syrien. Die Mütter arbeiten traditionell nicht außer Haus, außerdem fürchten sie Übergriffe, in Jordaniens Gesellschaft haben alleinstehende Frauen automatisch einen schlechten Ruf.

Fallen die Erwachsenen als Versorger der Familie aus, arbeiten die Kinder. Der Bäcker zahlt Hamdan vier Dinar pro Tag, Mohannad verdient im Haushaltswarengeschäft fünf Dinar. Beide Chefs beteuern, dass sie die Jungen beschäftigen, weil sie ihren Familien damit helfen wollen. Es sind Niedrigstlöhne und die Flüchtlinge brauchen das Geld. „Ohne das, was Mohannad verdient, wären wir verloren“, sagt seine Mutter Sabah.

Die Flüchtlinge erhalten Lebensmittelbons aus einem Hilfsprogramm der Vereinten Nationen, 24 Dinar pro Person und Monat. Allerdings gelten die Gutscheine für Grundnahrungsmittel wie Linsen, Reis und Öl, nicht für frisches Gemüse, Fleisch und Babynahrung. Miete, Strom, Gas und Wasser müssen die Familien ohnehin selbst zahlen. Wegen des anhaltenden Zuzugs aus Syrien ziehen die Lebensmittelpreise an, Wohnungen sind knapp, die Mieten steigen.

Lokale und internationale Hilfsorganisationen bemühen sich, Flüchtlingsfamilien auch mit Kleidung, Medizin und Bargeld zu unterstützen. Aber die Hilfen reichen nicht, um alle zu versorgen. Fast 630 000 syrische Flüchtlinge hat das einst 6,5 Millionen Einwohner zählende und wirtschaftlich schwache Jordanien mittlerweile aufgenommen, jede Woche werden es einige hundert mehr. Nur ein kleiner Teil lebt in einem der beiden UN-Flüchtlingslager, mehr als 80 Prozent der Menschen sind in Städten untergekommen. Im armen Ostteil der Hauptstadt Amman, vor allem aber im besonders unterentwickelten Norden Jordaniens nahe der syrischen Grenze, in Ramtha, Zarqa und Mafraq.

Kinder sind attraktive Arbeitskräfte

Kinder sind attraktive Arbeitskräfte, meint Salam Kanaan, Jordanien-Direktorin der unabhängigen Hilfsorganisation Care International. „Um ihren Familien zu helfen, akzeptieren Kinder alles. Sie versuchen nicht bessere Löhne und Arbeitszeiten zu verhandeln, sie halten verbale und auch körperliche Gewalt aus.“ Kinder wehren sich nicht, wenn sie schlecht behandelt werden, sagt Kanaan, das sei für viele Arbeitgeber ein entscheidender Vorteil. Ihre Träume von einst haben die Kinderarbeiter begraben. „Eigentlich wollte ich Elektrotechniker werden wie mein Vater“, erzählt Hamdan. „Aber Bäcker sein, das ist auch gut und wichtig, die Menschen brauchen Brot zum Leben.“ Mohannad, der Verkäufer, wollte Automechaniker werden. Als die Familie nach Jordanien floh, schloss er mit seinem Zwillingsbruder einen Deal: Einer geht arbeiten und unterstützt die Familie, einer lernt und macht den Schulabschluss.

Was denken die Eltern über die Situation ihrer Kinder? „Ich fühle mich schuldig, dass Hamdan nicht mehr zur Schule geht und lernt“, sagt seine Mutter Farha, 37. „Aber er ist der Älteste und unsere Lage ist schlecht. Unter anderen Umständen hätten wir ihn nie arbeiten geschickt.“ Was hatte sie sich für ihren Sohn gewünscht, wie sollte seine Zukunft aussehen? Farha beginnt zu weinen. „Ich wollte immer, dass er eine gute Bildung bekommt“, sagt sie. „Das ist heutzutage doch normal für Kinder, für Jungen und auch für Mädchen.“

Mohannads Mutter Sabah sagt, er verbiete ihr, ihn auf der Arbeit zu besuchen, ihm Essen zu bringen. „Er klagt nie, aber es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie er spätabends müde und kaputt von der Arbeit kommt.“ Eines Tages, sagt Sabah, werde sie mit ihren Kindern wieder in ihrem Heimatland leben. „Dann werde ich versuchen wiedergutzumachen, was sie jetzt erleiden müssen.“

Doch das Leben als Flüchtlinge wird noch dauern, vielleicht sehr viele Jahre. Syrische Familien werden weiter in Armut leben, ihre Kinder werden weiter arbeiten gehen anstatt zur Schule. Kinderarbeit bedeutet das Ende der Kindheit und das Ende von Bildung. Nur jedes zweite syrische Flüchtlingskind in Jordanien geht zur Schule, bei denen, die arbeiten, ist es nicht einmal jedes zehnte.

In den fast vier Jahren seit Ausbruch der Krise in Syrien „ist die entscheidende Investition in die Zukunft des Landes, die Kinder, auf der Strecke geblieben“, sagt Kanaan von der Hilfsorganisation Care. „Wenn wir unser Land wiederaufbauen wollen“, sagt Mohannads Mutter Sabah, „dann brauchen wir gut ausgebildete junge Menschen.“

Daniela Schröder

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