Im BLICK: Streng muslimisch in Europa
Andrea Dernbach über die aus der Islamkonferenz verbannte Milli Görüs
Seit der Innenminister erklärt hat, er werde sich für die Neuauflage der Islamkonferenz nicht mehr mit den Vertretern des Islamrats an einen Tisch setzen, weil der Staatsanwalt gegen dessen wichtigstes Mitglied ermittelt, die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“, stecken auch die anderen muslimischen Verbände im Dilemma. Schließlich ist der Islamrat einer von ihnen, Teil jenes „Koordinationsrats der Muslime“, der 2007 entstand, um muslimische Interessen besser zu vertreten. Auch an diesem Freitag kam keine Einigung darüber zustande, wie man auf den Ausschluss und das erneut vom Minister vorgegebene Programm der Islamkonferenz reagieren will.
Der Verdacht gegen Milli Görüs ist älter als die staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen Spitzenfunktionäre. Er richtete sich von Anfang an gegen die islamistische Ausrichtung dieses zweitgrößten muslimischen Verbands – nur Ditib, der deutsche Ableger der staatlichen türkischen Religionsaufsicht, vertritt mehr Muslime in Deutschland. Als Vertreterin eines politischen Islam wird Milli Görüs in Deutschland von mehreren Verfassungsschutzämtern beobachtet. Bayerns Innenminister Joachim Hermann rechtfertigte die Kontrolle auch nicht gewaltbereiter islamistischer Organisationen noch letztes Jahr damit, dass „hier der Verdacht besteht, dass sie verfassungsfeindliche Absichten tarnen und den Terrorismus finanziell unterstützen“.
Die Geschichte von „Milli Görüs“, wörtlich „Nationaler Standpunkt“, ist eng mit Necmettin Erbakan verbunden, der Mitte der 70er Jahre Namen und Programm der Bewegung formulierte, die mit den türkischen Arbeitsmigranten auch nach Deutschland kam. Erbakan hatte 1969 die erste Partei des politischen Islam in der Geschichte der türkischen Republik gegründet. 1996 wurde er Ministerpräsident der Türkei, musste aber auf Druck des Militärs zurücktreten. Erbakan und seine Anhänger vertraten ein Programm der umfassenden Umgestaltung des Staates im islamischen Sinne und waren antiwestlich und „antizionistisch“ eingestellt.
Doch die Agenda des politischen Islam hat sich in mehr als dreißig Jahren deutlich geändert, nicht nur in der Türkei, wo sich 2001 der Reformflügel der Erbakan- Partei um den heutigen Staatspräsidenten Abdullah Gül abspaltete und die AKP-Partei gründete. Die seit 2002 regierende AKP ist eine konservative Partei mit religiösen Wurzeln, die mit der CDU deutlich mehr Ähnlichkeit hat als mit Al Qaida. Und auch in Europa machen Forscher eine deutliche Entwicklung zum „Postislamismus“ aus. Der Kulturanthropologe Werner Schiffauer, der sich seit vielen Jahren mit dem konservativen Islam und Milli Görüs beschäftigt, stellt in der zweiten, in Europa ausgebildeten Generation der Kinder und Enkel eine eher stärkere Frömmigkeit fest. Einen islamischen Staat allerdings wollten sie nicht mehr, sie sähen den Geist des Islam vielmehr durch die Verquickung mit der Politik verschüttet. Auch der antiwestliche Reflex habe ausgedient, schreibt Schiffauer in seinem soeben erschienenen Buch „Nach dem Islamismus“: Die Führung von Milli Görüs sei zunehmend in die Hände von Leuten übergegangen, die „habituell und emotional“ vom Westen ebenso geprägt seien wie vom Islam.