Energiewende: Streit um die Zukunft der Kohle
Früher stritten Aktivisten, Politiker und Unternehmer um Atomkraftwerke. Nun ist die Kohle dran. Befürworter und Gegner der Pläne von Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, ältere Kohlekraftwerke stärker zu belasten, gehen am Samstag auf die Straße. Welche Argumente führen sie an?
Der neue Graben erinnert an alte Zeiten: Auf der einen Seite Energiewirtschaft und Politik, die für den Ausbau der Kernkraft sind, auf der anderen Seite die Akw-Gegner, die in Brokdorf und anderswo mit Wucht gegen den „Atomstaat“ protestierten. Diese Scharmützel liegen ein paar Jahrzehnte zurück, und 2022 geht hierzulande das letzte Atomkraftwerk vom Netz. Nun also die Kohle. Die Befürworter protestieren am heutigen Sonnabend vor dem Kanzleramt, die Gegner treffen sich im rheinischen Garzweiler. Mit Gewalt ist nicht zu rechnen, aber der Glaubensstreit zwischen Klimaschützern und Kohlebefürwortern verschärft sich.
Um was geht es?
Auf dem deutschen Strommarkt gibt es Überkapazitäten. Die Energiewende mit dem permanent steigenden Anteil erneuerbarer Energien hat skurrile Folgen: Moderne und relativ saubere Gaskraftwerke rechnen sich nicht mehr. Alte und schmutzige Braunkohlekraftwerke dagegen sind „erfolgreich“ wie noch nie, der Anteil der Braunkohle an der Stromerzeugung ist auf gut 25 Prozent gestiegen. Wir bekommen zwar immer mehr Strom aus Windkraft und Sonne, doch jagen wir trotzdem mehr CO2 in die Luft. Das Ziel der Bundesregierung, bis 2020 eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen, ist in Gefahr. Und damit das Image der Klimakanzlerin Angela Merkel.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat deshalb am 21. März ein „Eckpunktepapier Strommarkt“ vorgelegt, das diverse Punkte beinhaltet, aber vor allem wegen der Kohle die Gemüter in Wallung bringt. Die Stromerzeuger, die für etwa 40 Prozent der Treibhausgasemissionen hierzulande verantwortlich sind, sollen 22 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich einsparen. Das Mittel dazu: Auf Kraftwerke, die älter als 20 Jahre alt sind, sollen die Kraftwerksbetreiber eine zusätzliche CO2-Abgabe zahlen. Bislang gibt es CO2-Emissionszertifikate nur auf EU-Ebene, nun käme eine deutsche Sonderabgabe hinzu. Viele Anlagen würden dadurch unwirtschaftlich und stillgelegt. Das wäre gut für das Klima, aber schlecht für die Arbeitsplätze in der Kohlewirtschaft.
Was ist der Kern des Streits?
Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel (SPD) hat vor drei Wochen in einem Schreiben an alarmierte Betriebsräte der Energiewirtschaft den Plan verteidigt: Danach haben alle fossilen Kraftwerke im vergangenen Jahr knapp 350 Millionen Tonnen CO2 emittiert. Durch den Ausbau der Erneuerbaren, höhere Effizienz im Kraftwerksbereich und die ohnehin geplante Abschaltung von alten Kraftwerken würden bis 2020 schon 37 Millionen Tonnen weniger in die Luft geblasen. Aber das reicht Gabriel nicht. „Eine zusätzliche Verringerung um 22 Millionen Tonnen auf dann 290 Millionen Tonnen CO2 bis 2020 ist alles andere als ein ,Kohleausstieg’“, schreibt Gabriel an die Betriebsräte. Der Besänftigungsversuch kam nicht an. Mindestens 15 000 Kohlearbeiter wollen heute in Berlin-Mitte gegen die Pläne demonstrieren. Aufgerufen dazu haben die Gewerkschaften IG BCE und Verdi, die mittelbar den Verlust von bis zu 100 000 Arbeitsplätzen befürchten.
Gabriel hielt das bislang für Panikmache, denn rund 90 Prozent der konventionellen Stromerzeugung würden gar nicht belastet. Die Kohleverstromung habe „noch auf längere Sicht eine wichtige Bedeutung für sichere und bezahlte Versorgung mit Strom in Deutschland“, beteuert der SPD-Chef. Er schrieb einen weiteren Brief, diesmal an die Gewerkschaftschefs Michael Vassiliadis (IG BCE) und Frank Bsirske (Verdi). Darin bietet er erneut Gespräche und Korrekturen an seinem Plan an, wenn sich herausstellen sollte, dass die von ihnen vorgelegten Zahlen valide sind. Auch unabhängig davon sei das Ministerium „offen für jeden alternativen Vorschlag, der die Arbeitsplätze sichert und die Klimaschutzziele erreichen hilft“, schreibt er. „Wenn wir uns aufeinander zubewegen, können und werden wir beides schaffen.“
Wie argumentieren die Kohlefreunde?
Gewerkschaften und Kohleländer werfen Gabriel und seinem Staatssekretär Rainer Baake vor, von falschen Prämissen auszugehen. Der von den Politikern unterstellte Anstieg des Strompreises ab 2017 sei viel zu hoch. Deshalb könnten die Kraftwerksbetreiber die neue CO2- Abgabe auch nicht über höhere Preise ausgleichen. Die IG BCE hat in einem Gutachten deutlich geringere Preissteigerungen ermitteln lassen. Konsequenz: Bei einer Vollkostenbetrachtung sind von 38 untersuchten Kraftwerksblöcken mindestens 70 Prozent und im schlimmsten Fall 95 Prozent „nach Einführung des vollen Klimabeitrags unprofitabel“. Die Braunkohle, einziger fossiler Energieträger, über den Deutschland im größeren Umfang verfügt, wäre am Ende.
Die Daten der Gewerkschaft wollen die Kraftwerksbetreiber mit weiteren, von Wirtschaftsprüfern testierten Angaben ergänzen. Das ist in Gabriels Sinn. „Wir brauchen Klarheit über die Zahlen und Folgen“, schreibt Gabriel an die Gewerkschaftsbosse. „Vorher wird nichts entschieden.“
Was sagen die Umweltschützer?
Klimaschützer argumentieren vor allem mit Deutschlands Vorbildwirkung in den internationalen Klimaverhandlungen. „Alle gucken ganz genau, ob Deutschland sein Klimaziel bis 2020 erreicht“, sagt Jennifer Morgan, Klimaexpertin des Washingtoner World Resource Institutes. Und Patrick Graichen, Chef des Thinktanks Agora Energiewende, hat in die Geschäftsberichte von RWE und Vattenfall geschaut und dabei festgestellt, dass beide nach eigenen Angaben mehr CO2 einsparen wollen, als die Bundesregierung es jetzt von ihnen verlangt. Bei RWE heißt es im Geschäftsbericht: „Unser Ziel ist, ihn bis 2020 auf 0,62 Tonnen je erzeugte Megawattstunde Strom zu senken. Zum Vergleich: 2014 haben wir 0,745 Tonnen je Megawattstunde emittiert.“ Graichen hat ausgerechnet, dass allein RWE mit dieser Zielsetzung rund 30 Milliarden Tonnen CO2 einsparen könnte, wenn die Stromerzeugung im Vergleich zu 2014 gleich bleibt.
Einig ist sich die Umweltbewegung mit der Einschätzung, dass der Strukturwandel weg von der Braunkohle jetzt beginnen muss, damit er bis 2050 abgeschlossen ist. Die angeblich gefährdeten 100 000 Arbeitsplätze seien Propaganda der Gewerkschaften. Tatsächlich rechnet das Umweltbundesamt mit dem Verlust von 4700 Arbeitsplätzen in der Braunkohle.
Wo liegt die Kompromisslinie?
Die SPD-Energieminister Albrecht Gerber (Brandenburg), Garrelt Duin (NRW) und Martin Dulig (Sachsen) haben einen Protestbrief an Gabriels Staatssekretär geschickt. „Es ist nach unserer Auffassung nicht die Aufgabe der Länder, Instrumente zur Umsetzung bundespolitischer Klimaschutzziele zu entwickeln.“ Und die Unionsfraktion hat angekündigt, Gabriels Weg nicht mitzugehen, ohne allerdings Alternativvorschläge machen zu wollen. Das soll gefälligst Gabriel machen.
Der Koalitionsausschuss wird sich am Sonntagabend mit der Sache befassen. Erwartet wird ein strukturpolitisches Bekenntnis zur Kohle und eine Absichtserklärung, dass Verwerfungen in der Lausitz und im rheinischen Revier vermieden werden sollen. Doch die Klimakanzlerin wird nicht vom 40 Prozent-Ziel abrücken. Aber vermutlich von den zusätzlich 22 Millionen Tonnen für die Kohlewirtschaft. Das werden am Ende ein paar Millionen weniger sein. Es werden nicht so viele Kraftwerke betroffen und somit unwirtschaftlich sein, aber dafür muss sich die Branche zu anderen Maßnahmen zur CO2-Reduzierung verpflichten. Im Moment wird aber noch Mikado gespielt: Keiner will sich zu früh bewegen.
Dagmar Dehmer, Alfons Frese