Avus: Straße des Westens
Sie war Pionier der Autobahnen. Und Rennpiste. Vor allem war sie der Weg in die Freiheit. Nun wird die Avus restauriert – und damit zum Nadelöhr.
Die Spur des Mythos führt mitten in den Wald: Einfach in Berlin-Nikolassee den Kronprinzessinnenweg Richtung Charlottenburg nehmen, immer längs der Autobahn, vorbei am Abzweig der Havelchaussee. Auf dem nun schmaleren, für Autos gesperrten Asphaltband noch 300 Meter geradeaus, zur Linken der Grunewald, aus dessen Gehölz sich plötzlich ein ebenfalls baumbewachsener Erdwall erhebt. Ein zweistöckiges Haus würde er locker überragen, ein scheinbar sinnlos aufgehäufter Hügelrücken, dessen Form sich erst beim Betreten der von ihm umrahmten Brachfläche erschließt: eine Halbellipse, zur Autobahn hin geöffnet.
Der seltsame Wall ist die unvollendete Südsteilkurve der Avus, Gegenstück zur Nordkehre am heutigen Autobahndreieck Funkturm. 1937 eröffnet, 30 Jahre später wieder abgetragen, hatte die Nordsteilwand die Avus für Jahrzehnte zur schnellsten Rennstrecke der Welt gemacht. Im Süden reichte die Zeit noch für Erdarbeiten, dann kam der Krieg. Danach hatten nur noch die GIs ihren Spaß an dem Wall, tauften ihn Keerans Range und übten dort das Schießen: Kugelfang statt Steilkurve.
Von der Kuppe des Walls ist die Avus gerade in der blätterlosen Jahreszeit leicht einzusehen. Wagen für Wagen rauscht vorbei. In diesem Bereich dürfen sie sogar die 100 km/h fahren, die der Avus 1989 als Maximaltempo verordnet worden waren. Ein eher theoretisches, zudem nur noch an wenigen Stellen gültiges Limit: Schon an der Abfahrt Hüttenweg muss man runter vom Gas, steht danach oft im Stau, hat daher am Nordende der Avus Muße zum Blick auf die anderen Zeugnisse früherer Tempoeuphorie, das zum Motel mutierte Avus-Verwaltungsgebäude mit Beobachtungsturm und Mercedes-Stern wie auch die Tribüne gegenüber, beide von 1937, unter Denkmalschutz.
Das Stehen und Schleichen, die zähen Minuten im Stau, wird man künftig noch öfter hinnehmen müssen. Im Frühling, spätestens Sommer 2011, dem 90. Jahr der Avus, startet deren Generalreparatur. Zwischen Funkturm und Nikolassee werden Fahrbahn und Brücken saniert, die am Hüttenweg entsteht sogar neu. Es dürfte eng werden auf der alten Rennpiste, trotz entlastender Umleitung. Die Motorradfahrer der Stadt, die die „Spinnerbrücke“ an der Ausfahrt Spanische Allee schon vor Jahrzehnten zu ihrem Lieblingsziel erkoren haben, wird das nicht stören, sie schlängeln sich zur Not durch oder wollen, wie Stammgäste der dortigen Bikerkneipe ankündigten, alternative Wege wählen. Allen anderen bleiben nur Geduld und Zähneknirschen, dazu die Gewissheit, dass es so fix wie früher nie wieder durch den Grunewald gehen wird – mehr noch, die Erkenntnis, dass die Welt, und sei es auch nur auf wenigen Straßenkilometern, in zwei Jahrzehnten komplett auf den Kopf gestellt werden kann.
Denn die Ankündigungen der Baustellenplaner – zwei Spuren stadtauswärts, eine hinein – lassen Richtung Nikolassee zwar weiterhin auf halbwegs behendes Vorankommen hoffen, der Weg nach Charlottenburg dagegen wird wohl für drei Jahre zur Kriechspur. Früher war es genau umgekehrt. Da verband der West-Berliner über Jahrzehnte gerade den Weg zurück in seine City mit ungezügeltem Tempo und gab nach der nervigen, zudem streng überwachten Tempo-100-Schleichfahrt über die Transitstrecke diesseits von Dreilinden beherzt wieder Gas, aufatmend, dass er nicht länger der vermeintlichen Willkür getarnt lauernder DDR-Vopos ausgeliefert war, vielmehr endlich wieder über vertrautes Terrain mit kalkulierbarem Risiko rollte. Nicht zu vergessen die fast körperliche Lust, den unter der Motorhaube schlummernden Pferdchen die Sporen zu geben, denen man dort auch sonst hin und wieder gerne etwas Auslauf gönnte. Die Gefühle in der Gegenrichtung waren eher ambivalent: Ab Hüttenweg ging es zunehmend langsam voran, stets mit der Ungewissheit im Nacken, wie lange es wohl diesmal in Drewitz dauern würde. Stundenlanges Warten wie vor dem Transitabkommen 1972 gab es zwar nicht mehr, aber der Grenzübergang mit der Avus als Hauptzubringer blieb doch Nadelöhr, das wichtigste im Transitverkehr, durch das sich 1986 an Spitzentagen bis zu 30 000 Reisende quälten. Zu Ferienbeginn war es besonders schlimm, wenn alle in die Ferne wollten und die DDR-Grenzer mal wieder nicht darauf eingestellt waren oder auf stur stellten. Mit einer Stunde und mehr musste man immer noch rechnen, die mancher Autofahrer zur Trimm-dich-Einlage nutzte, indem er seinen Wagen den letzten Kilometer schob. Doch blieb die Avus auch auf diesem Weg eine Straße der Freude, besser gesagt, der Vorfreude: für die Tramper, die in Dreilinden Schilder mit ihren Zielen hochreckten und hoffungsfroh den sich von der Avus nähernden Autos entgegenblickten; und natürlich vor allem für deren Insassen, begannen doch hier am Stadtausgang, trotz der Klippen des Transits, irgendwie schon Urlaub, Freiheit, Abenteuer. Hinter der Avus lag der Strand.
Eine versunkene Welt mit fast vergessenen Gefühlen. Heute schieben sich dort andere Grenzen ins Bewusstsein, durchaus aus plausiblen Gründen, eine neue und dauerhafte Tempodrosselung in Nikolassee beispielsweise, die für die Zeit nach der Avus-Reparatur im Gespräch ist. Ein Phänomen des Zeitgeistes, der nun eben nach Lärmminderung verlangt, in den Jahrzehnten der Steilkurve noch undenkbar. Dem die Avus aber seit jeher, wie immer dieser Zeitgeist auch aussah, unterworfen blieb. Ja, ihre Geschichte erscheint geradezu als Spiegelbild der neueren Berliner, der deutschen Historie.
Sie begann am 23. Januar 1909 im Kaiserlichen Automobil-Club am Leipziger Platz 16, als reiche Autoenthusiasten dort die „Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße GmbH“ gründeten, aus deren Initialen das Kunstwort Avus entstand. Ziel war eine reine Autopiste, da sich auf dem alten Straßennetz Motorisierte und Nichtmotorisierte zunehmend in die Quere kamen. Für die neue Straße stand bald die Strecke zwischen Charlottenburg und Nikolassee fest, 1913 konnten die privaten Straßenbauer, nun als AG, beginnen. Bis Kriegsausbruch ging es zügig voran, dann hatte die Natur Zeit, sich die meist erst planierte Piste zurückzuerobern.
Neuer Schwung kam 1920 in das Projekt, als der Industrielle Hugo Stinnes einstieg und die Strecke binnen Jahresfrist fertig wurde: die erste Autobahn der Welt, neun Kilometer nur für Kraftfahrzeuge, schnurgerade, kreuzungsfrei, mit zwei durch einen Mittelstreifen getrennten Richtungsfahrbahnen, je acht Meter breit, dazu am Nordende Torhaus, Tribünen und eine Schleife von 244 Metern Radius, im Süden dagegen, zwischen Schlachtensee und Nikolassee, eine engere Kehre – ein Rundkurs von 19,6 Kilometern.
Die Premiere mit einem Rennwochenende am 24./25. September 1921 wurde ein grandioses Volksfest. Die boomende deutsche Autoindustrie hatte ihre Produkte ins Rennen geworfen, die schnellste Runde gelang dem jungen Fritz von Opel mit 128,84 km/h. Ab 1. Oktober 1921 durfte der Normalverkehr auf die Avus, doch die nächste Krise rollte schon an: Inflation. Die Benutzungsgebühren waren den meisten Fahrern zu hoch, die wenigen Rennen stießen nur auf begrenztes Interesse. Erst beim 1. Großen Preis von Deutschland am 11. Juli 1926 konnte die Avus an den Anfangstriumph anschließen. Es wurde der Durchbruch von Rudolf Caracciola, dem „Regenmeister Caratsch“. Beim Start hatte er seinen Mercedes-Benz abgewürgt, konnte aber das Feld trotz Wolkenbruchs aufrollen und sogar die Rekordrundenzeit von 154,8 km/h herausfahren. Teamkollege Adolf Rosenberger dagegen verlor in der Nordkurve die Kontrolle über den Wagen, schmetterte in ein Zeitnehmerhäuschen: Drei Tote. Ein weiteres Todesopfer, das erste von insgesamt zwölf in der Avus-Renngeschichte, hatte es beim Training gegeben.
Deutliche Streckenmängel, die Konkurrenz des Nürburgrings und vor allem die Wirtschaftskrise verhinderten weitere Autorennen. Die Avus wurde Teststrecke zur Erprobung neuer Straßenbautechniken, immerhin mit einigen Motorradrennen und am 23. Mai 1928 der Rekordfahrt des Raketenautos RAK 2 mit Fritz von Opel am Steuer. Erst ab 1931 wurden wieder Wettkämpfe auf vier Rädern ausgetragen, Beginn des ruhmreichsten, sich bald aber vor fragwürdigem politischem Hintergrund abspielenden Jahrzehnts der Berliner Rennstrecke. Es waren noch immer die Jahre von Caracciola, dazu die der neuen Helden Manfred von Brauchitsch, Hans Stuck, Luigi Fagioli, Hermann Lang und Bernd Rosemeyer, die Jahre der Bugattis, der ersten Stromlinien-Karosserien, zuletzt der „Silberpfeil“-Duelle zwischen Mercedes und Auto Union. Die Autos legten im Tempo mächtig zu, dank der 1937 frisierten Strecke konnten die Fahrer noch das Letzte herauskitzeln, und die neue Steilkurve mit ihrer Neigung von 43,6 Grad machte die Strecke zur schnellsten der Welt. Das legendäre Rennen am 30. Mai 1937 trugen Mercedes-Benz und Auto Union unter sich aus, an der Spitze Hermann Lang im Mercedes W 25 beim Durchschnittstempo von 261,64 km/h. Die schnellste Runde ging an Bernd Rosemeyer auf Auto Union: 276,40 km/h.
Nach dem Krieg säumten Wracks die Avus, Panzerketten hatten sie gezeichnet, Verkehr tröpfelte nur noch. Rennen gab es vorerst einzig zwischen Hamsterern um eine Mitfahrgelegenheit: „Am Rande der breiten Straße liegen die Berliner zu Dutzenden in den flachen Gräben“, schrieb der Tagesspiegel im Oktober 1947. „Immer dann, wenn von der Avus (…) ein Lastauto einbiegt, erwachen sie aus ihrer Lethargie. Sie stopfen hastig die eben begonnene Mahlzeit in die Rucksäcke zurück, raffen Decken und ausgebreitete Mäntel zusammen und laufen winkend auf die Straße.“ Nach der Blockade wurde der Rundkurs zur normalen Straße herabgestuft, damit für Pferdefuhrwerke freigegeben – und für Radfahrer, die dort erst wieder Jahrzehnte später bei Sternfahrten strampeln durften.
Trotz solcher Widrigkeiten konnte die Motorsport-Lobby bereits am 1. Juli 1951 wieder zu einem Rennen laden, mit neuer Südkehre kurz vor dem Hüttenweg. Hunderttausende kamen, Bundespräsident Theodor Heuss hatte per Tonband eine Grußbotschaft gesandt. Ein deutsch-deutscher Tag: Beim Rennen der Formel-2-Wagen, dem wichtigsten, siegte „Ostzonenfahrer“ Paul Greifzu im modifizierten BMW des Rennkollektivs Johannisthal. Für die Avus begann erneut eine glanzvolle Zeit: Siege, Rekorde, doch auch Tragödien. Am 19. September 1954 gastierte hier, wie auch fünf Jahre später, sogar die Formel I. Sieger Karl Kling (Mercedes-Benz) kritisierte aber hinterher die Bodenwellen in der zudem geklinkerten Nordsteilkurve. Diese Kurve wurde wenig später zum Schauplatz spektakulärer Stürze. Am 16. September 1956 trug es den Porsche Richard von Frankenbergs oben hinaus, der selbst nur leichte Verletzungen erlitt. Und am 1. August 1959 kam es auf regennasser Piste gleich zu einer ganzen Unfallserie. In der vierten Runde geriet der Franzose Jean Behra im Porsche auf eine zu hohe Bahn, prallte auf das alte Fundament eines Flak-Geschützes, wurde gegen einen Fahnenmast geschleudert – tot.
Die Begeisterung für Steilkurve und Avus begann danach zu schwinden. Solche Kurven wurden schließlich generell für internationale Rennen untersagt, der Beginn der Arbeiten zum Autobahndreieck Funkturm, Anschluss der Avus an die Stadtautobahn, war daher willkommener Anlass, die Steilwand 1967 abzureißen. Rennen gab es weiterhin, mit flacher Nordkehre und mehrfach, zuletzt auf 2,66 Kilometer verkürzter Strecke. Aber sie besaßen nicht mehr die frühere Attraktivität, zudem mussten sich die Stadt und der veranstaltende ADAC unentwegt mit den Klagen lärmgeplagter Anwohner herumärgern. Nur James Bond durfte noch ungehemmt rasen, 1982 am Hüttenweg, wo Roger Moore eine Verfolgungsjagd für „Octopussy“ drehte.
Dem West-Berliner blieb immerhin der kleine Vollgasrausch auf den letzten 6,5 Kilometern ohne Tempolimit, doch selbst damit war es Mitte Mai 1989 vorbei, als der rot-grüne Senat eine 100-km/h-Regelung verfügte, damit die Fahrtzeit über die Avus um zwei Minuten verlängerte – und einen mittleren Kulturkampf auslöste. Viele Autofahrer erboste der vermeintliche Angriff auf ihre Freiheit, der ihnen , so schimpften sie, Verhältnisse wie in der DDR beschere. Eine Bürgerinitiative machte mobil, es gab Klagen vor Gericht, Protestkorsi legten die Innenstadt lahm. Plakate wie „Wir trauern um die letzten 6,5 km Freiheit von West-Berlin“ tauchten auf, und der CDU-Bundestagsabgeordnete Jochen Feilcke wetterte gegen die „Bürgerschreckkoalition“, die den Berlinern „auch noch die letzten Bereiche selbstbestimmter Lebensfreude genommen“ habe. Man hätte meinen können, mit dem Tempolimit sei Momper & Co. doch noch das gelungen, was Stalin, Ulbricht, Honecker nicht schafften: der Tod der Freiheit von West-Berlin. Andere argumentierten mit drohenden Motorschäden, wenn sie ihren Wagen nicht hin und wieder ausfahren dürften. Auch der ADAC warf sich ins Parolengetümmel, rühmte die Avus als „wichtigste Verkehrsader im Transit“ und rügte Tempo 100 als „Bevormundung verantwortungsbewusster Berliner Autofahrer“. Manche Mitglieder nahmen dem Club dies übel, was er erst bestritt, doch auf eine entsprechende Meldung im Tagesspiegel meldeten sich immer mehr Leser, die dem ADAC wegen seiner Politik Adieu gesagt hatten. Die Zeitung meldete es beharrlich – und wurde von Autofirmen und sogar einem Möbelhaus mit Anzeigenboykott bestraft.
Auch das ist längst Geschichte, beim Tempolimit aber blieb es, auch unter der dann folgenden CDU/SPD-Regierung, die sogar 1998 die Avus als Rennstrecke aufgab. Seither ist es eine Autobahn wie jede andere, sogar die Anfang der siebziger Jahre installierten Lampen hat man wieder ausgeknipst, und auch aus Polizeisicht ist die Straße unauffällig: 2009 täglich 90 000 Wagen, 220 Unfälle, einer tödlich. Selbst der Rennmythos beginnt zu verblassen. Der Hersteller von Carrera-Bahnen jedenfalls hat kein nach der Avus benanntes Set mehr im Programm. Doch zum Glück haben findige Modellauto-Liebhaber im Internet noch immer Vorschläge parat, wie man sich die Piste von 1937 aus Carrera-Teilen selber baut: Samt Steilkurve sei sie knapp 14 Meter lang, um Rosemeyers Rekordzeit im Verhältnis korrekt darzustellen, müsse man sie in 5,79 Sekunden durchfahren. Das sollte zu schaffen sein.