zum Hauptinhalt
Sebastian Edathy
© dpa

Der Fall Sebastian Edathy: Stille Post

Wusste die halbe Bundesregierung seit Monaten davon, dass gegen den SPD-Abgeordneten Edathy ermittelt werden sollte? Hat ihn einer der Eingeweihten darüber informiert? Das wäre ein Erdbeben für die Koalition.

Am Donnerstagmorgen war die Angelegenheit noch eine unter dem Namen „Edathy“. Ein in der Bevölkerung bislang nicht weiter berühmter SPD-Bundestagsabgeordneter, der am Freitag zuvor sein Mandat aus „gesundheitlichen Gründen“ zurückgegeben hatte und über den kurze Zeit später in allen Zeitung steht, er habe sich womöglich kinderpornografisches Material im Internet besorgt, weshalb nun die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Unschön, so ein Vorwurf, politisch und menschlich sowieso. Und noch unschöner, wenn er, wie geschehen, das Licht der Öffentlichkeit erreicht, noch bevor jemand sicher sagen kann, dass an dem Vorwurf etwas dran ist. Aber eben auch nur das: Ein ehemaliger Abgeordneter hat Probleme mit der Justiz. Am Donnerstagmittag wurde aus dem Fall „Edathy“ plötzlich ein anderer, ein bedrohlicherer für die Regierung. Ein Fall „Friedrich“ womöglich, und ein Fall „Gabriel“, ein Fall „Oppermann“, vielleicht auch ein Fall „Steinmeier“.

„Eil“, meldet die Deutsche Presseagentur dpa kurz vor Mittag, und das tut sie normalerweise nur bei Nachrichten von besonderer Brisanz. Und die schien den Reportern der dpa in diesem Fall gegeben zu sein: In trockenen Sätzen teilten sie mit, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel bereits im Oktober 2013 vom damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) über mögliche Ermittlungen gegen Sebastian Edathy informiert worden war.

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann hatte das in einer Erklärung kurz zuvor bekannt gegeben. Und nicht nur das. Auch der jetzige Außenminister, Frank Walter Steinmeier (SPD), im Herbst noch Fraktionschef, war durch Gabriel informiert worden, dann Oppermann und noch andere mehr, wie Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius. Dieser erhielt die Information von Göttingens Polizeipräsident Robert Kruse, wie ein Sprecher des Ministers mitteilte. Die Zahl der Mitwisser scheint also nicht gering gewesen zu sein.

Plötzlich reiht sich Verdacht an Verdacht: Weiß womöglich die halbe Bundesregierung seit Monaten davon, dass gegen Edathy ermittelt werden soll? Und vor allem: Hat ihn am Ende einer der Eingeweihten sogar informiert: darüber, dass man ihm auf den Fersen sei? Was am Ende wirklich wer gewusst und vor allem wem gesagt hat, darüber liegen natürlich noch keine sicheren Erkenntnisse vor. Aber eines scheint am Donnerstagabend schon klar zu sein: Sollte sich herausstellen, dass einer der Politiker, die im Herbst von den anstehenden Ermittlungen gewusst haben, Edathy in sein Wissen eingeweiht hat, so dass dieser womöglich belastendes Material hätte zur Seite schaffen können, bevor die Ermittler vor seiner Türe stehen, dann würde das strafrechtliche Konsequenzen haben.

Wer hilft eine Straftat zu verschleiern, macht sich mitschuldig

Und politische auf jeden Fall. Ein mittleres Erdbeben für eine Koalition, die gerade schwierigste politische Entscheidungen in Europa und zu Hause durchzustehen hat. Denn so viel ist klar: Vor dem deutschen Gesetz sind alle Menschen gleich, auch Verdächtige mit Bundestagsmandat. Und für die einen wie für die anderen muss gelten: Wer ihnen hilft, eine Straftat zu verschleiern, der macht sich selber schuldig. Auch dann, wenn er aus besten politischen und menschlichen Beweggründen handelt.

Und ganz fern liegt dieser Verdacht in diesem Fall ja wohl nicht. Zumindest sieht man das in Hannover so. Man habe, teilte die dortige ermittelnde Staatsanwaltschaft am Donnerstag mit, bei den Durchsuchungen in Büros und Wohnungen von Sebastian Edathy „nur wenig Material“ gefunden. Ein paar Schriftstücke, einen Computer. Aber eben auch das: Es muss noch mehr Computer gegeben haben, die aber „offensichtlich zuvor entfernt“ wurden. Wusste Edathy also von den Ermittlungen? Und wenn ja, von wem? „Wir sind in eine Situation gekommen, in der die Durchsuchungen nicht mehr gegriffen haben“, sagt ein Ermittler und spricht aus, was er vermutet: „Das grenzt an Strafvereitelung.“ Auch die Tatsache, dass Edathy sein Mandat für den Bundestag am Freitag zurückgab, nur einen Tag, nachdem die Staatsanwaltschaft in Hannover Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) um Aufhebung der Immunität des Abgeordneten gebeten hatte, spricht für eine Vorwarnung. Denn das Schreiben an Lammert ist erst Mitte dieser Woche in Berlin eingegangen.

Keiner will das "Informationsleck" sein

Wahrscheinlich hat Edathy geahnt, was ihm blüht. Und vielleicht ist er ja wirklich gewarnt worden. Von tapsigen Ermittlungsbeamten vielleicht oder von Lokalreportern der ortsansässigen Lokalzeitung „Die Harke“. Von Parteifreunden in der niedersächsischen Landesregierung vielleicht. Oder aber von der Spitze der deutschen Regierungskoalition.

Wie brisant dieser Verdacht werden könnte und was das für seinen Job bedeutet, hat der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, sofort erkannt. Ihn hatte SPD-Fraktionschef Oppermann im Fall Edathy nach eigenen Angaben im Herbst angerufen, um nachzufragen, ob denn wirklich stimme, was Friedrich Gabriel und Gabriel dann Steinmeier und der wohl Oppermann erzählt hatte. Glaubt man Oppermann, dann muss Ziercke ihm die Angelegenheit bei dem Gespräch bestätigt haben, was klar gegen die Regeln seines Amtes gewesen wäre. Weshalb Ziercke jetzt auch zu Protokoll gibt, das Gespräch zwischen Oppermann und ihm im Herbst sei ganz anders verlaufen.

Oppermann nämlich habe ihn im Oktober angerufen und über den Inhalt eines Gesprächs berichtet, das Gabriel mit ihm geführt habe. Darin sei es um Ermittlungen im Ausland gegangen, in deren Rahmen der Name Edathy aufgetaucht sei. „Diese Darstellung habe ich mir angehört, aber Herrn Oppermann diese weder bestätigt noch Informationen zum Sachverhalt mitgeteilt“, teilt Ziercke nun mit und widerspricht damit ganz eindeutig der Darstellung Oppermanns. Niemand will also in den Verdacht geraten, Edathy womöglich informiert zu haben oder an einer Information beteiligt gewesen zu sein. Man kann sich lebhaft vorstellen, in welcher Lautstärke die beiden Männer an diesem Donnerstag miteinander gesprochen haben.

Sebastian Edathy
Sebastian Edathy
© dpa

Der Fall Edathy - Beginn eines Skandals

Doch treten wir für einen Moment zurück in die damalige Zeit, den Herbst 2013. Die Bundestagswahl lag hinter dem politischen Betrieb, die Union bereitete sich schon lange auf eine große Koalition vor, und Sigmar Gabriel kämpfte mit den unterschiedlichsten Widerständen in seiner Partei. Soll man nun mit der Union regieren oder nicht? Im Oktober gab es bereits Sondierungsgespräche. Später werden sich Teilnehmer der Runden daran erinnern, dass man sich zunächst sehr argwöhnisch und skeptisch begegnet ist, dann aber sehr rasch bemerkt hatte, dass der jeweils andere doch irgendwie auch ein anständiger Politiker und manchmal sogar ein anständiger Kerl ist.

In dieser Zeit des Suchens und Sondierens war in den Spitzengremien der Unionsparteien und auch bei einigen Spitzen-Sozialdemokraten schon klar: Es wird auf eine große Koalition hinauslaufen, man sollte es versuchen, im beiderseitigen Interesse. Ausgerechnet. So zumindest könnte Hans-Peter Friedrich gedacht haben, als er genau in diesem Moment von seinen Ministeriumsmitarbeitern über eine heikle Personalie informiert wurde.

Sebastian Edathy. Das ist jener Mann, der den NSU-Untersuchungsausschuss geleitet hat, der sein Ministerium immer wieder angegriffen hat, mal scharf, mal süffisant, der mangelhafte Aktenweitergabe kritisiert hat und mit dem Finger auf Fehlverhalten der Sicherheitsbehörden, die dem Ministerium unterstellt sind, gezeigt hat. Dieser Name taucht plötzlich auf einer Liste kanadischer Ermittlungsbehörden auf.

Der Vorgang lässt sich in etwa so rekonstruieren: Die kanadischen Ermittler sind nach jahrelangen Recherchen einem internationalen Kinderporno-Ring auf die Spur gekommen. Im Zuge dessen erstellen die Kanadier auch eine Liste mit Namen potenzieller deutscher Kunden. Diese Liste landet beim Bundeskriminalamt, und das informiert nicht nur die zuständigen Staatsanwaltschaften, sondern auch das Bundesinnenministerium. Denn es taucht auch ein prominenter Name darauf auf: Sebastian Edathy.

Verdacht auf Kinderpornografie

Friedrich wurde nach Darstellung seines Sprechers Ende Oktober von seinem Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, der heute Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung ist, darüber informiert, dass Edathy bei internationalen Ermittlungen auf einer Namensliste aufgetaucht sei. Der Minister habe nachgehakt, ob es strafrechtliche Vorwürfe gegen den SPD-Politiker gebe, was Fritsche verneint habe. Das sei wichtig für Friedrich gewesen. „Aber wegen der politischen Dimension hat er den SPD-Vorsitzenden Gabriel vertraulich informiert“, sagt Friedrichs Sprecher heute. Denn es bestand die Gefahr, dass die Liste öffentlich wird. Es bestand aber auch die Gefahr, dass es doch noch zu strafrechtlichen Ermittlungen gegen Edathy kommt. Was Friedrich angeblich nicht wusste: dass es sich um den Verdacht der Kinderpornografie handelt. Das habe Friedrich erst später erfahren, aber Gabriel darüber nicht gesondert informiert.

Dass der Bundesinnenminister über derartige Vorgänge informiert wird: Darüber gibt es keine Verwirrung. Das ist parlamentarischer Brauch. Aber darüber, ob er sein Wissen weiter geben darf und damit leichtfertig die Tür für weitere Ermittlungen der Staatsanwälte zuschlägt: Darüber gehen die Meinungen auseinander. Er habe Gabriel die Informationen aus „menschlichen Gründen“ gegeben, sagen Leute in seinem Umfeld. Mit dem Ziel, den angehenden Koalitionspartner Gabriel davor zu warnen, Edathys Karriere bei der bevorstehenden Regierungsbildung so stark zu befördern, dass die ganze Koalition einige Zeit später Schaden nimmt, wenn sich die Vorwürfe gegen Edathy erhärten sollten und er zurücktreten müsste.

Ob sich Minister Friedrich strafbar gemacht hat, als er sein Wissen an die SPD-Spitze weitergab, darüber gibt es verschiedene Meinungen. Wolfgang Kubicki forderte sofort, gegen den Minister ein Verfahren zu eröffnen „wegen des möglichen Verdachts auf Verrat von Dienstgeheimnissen und Strafvereitlung im Amt“. Kubicki ist nicht nur stellvertretender FDP-Vorsitzender, sondern auch Strafverteidiger. Und wie die Berliner Staatsanwaltschaft dem Tagesspiegel bestätigte, prüft sie die Verwicklung Friedrichs in den Fall. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gibt es zwar noch nicht. Dass es aber dazu kommen kann, ist keineswegs ausgeschlossen.

Andere Juristen in politischen Ämtern werten die Sache etwas anders. „Strafvereitlung im Amt ist ein Delikt, das erfolgsorientiert ist“, sagt ein Unionsexperte. Zu Deutsch: Derjenige, der eine Information weitergibt, muss damit die Absicht verbinden, den mutmaßlichen Täter zu warnen. Das kann man wohl ausschließen. Schweigen, sagt der Experte, hätte der CSU-Mann trotzdem müssen: „Er hat die Ermittlungen nicht im strafrechtlichen Sinne vereitelt, aber er hat sie gefährdet – und möglicherweise mit Erfolg.“ Auch andere Fachleute aus dem parlamentarischen Raum sehen nicht, dass Friedrich aus dem vertraulichen Gespräch mit Gabriel ein juristischer Strick gedreht werden kann. Er habe als Minister da einen Ermessensspielraum.

Sebastian Edathy
Sebastian Edathy
© dpa

Rückzug und Krankmeldung - wie Edathy verschwand

Mit dem Wissen von heute fragen sich natürlich viele, die Edathy seinerzeit im Bundestag beobachtet haben, ob der Mann womöglich schon länger als eine Woche weiß, dass ihn die Ermittlungsbehörden beobachten. Im Oktober, sagen Abgeordnete, habe „der Edathy sich verändert“. Ein sonst sehr strukturierter, konzentrierter und ehrgeiziger Mensch, wird plötzlich fahrig, konfus. Er zieht sich zurück. Ausgerechnet einer der profiliertesten Innenpolitiker der SPD tritt in den Koalitionsverhandlungen kaum mehr in Erscheinung. Als die Posten und Pöstchen für die neue Koalition vergeben werden, kommt er nicht zum Zug. Im Januar dann die Krankmeldung.

Für einige in der Fraktion dürfte die Krankmeldung schon nicht mehr überraschend gewesen sein. Denn die Informationen, die Gabriel, Steinmeier, Oppermann und später auch Oppermanns Nachfolgerin als Parlamentarische Geschäftsführerin Christine Lambrecht hatten, blieben möglicherweise nicht in dem Zirkel. Hat Edathys Zurückgezogenheit, seine Verschlossenheit womöglich ihre Ursache darin, dass er längst wusste, warum ihm der Parteivorsitzende Gabriel, Außenminister Steinmeier und der neue Fraktionschef Oppermann jenen politischen Aufstieg verwehrt haben, den er sich durch seine Amtsführung im NSU-Untersuchungsausschuss erkämpft hatte? Gut möglich, dass er seine Partei- und Fraktionsoberen gefragt hat, warum sie ihn nicht befördern – und eine ernüchternde Antwort erhielt.

Edathy selbst ist seit Tagen abgetaucht. Im europäischen Ausland, heißt es, Dänemark wird genannt. Aber selbst in der SPD bekommen sie keinen Kontakt zu ihm. Sorgen machen sie sich dennoch um ihn. Zumal: Er selbst hat zuletzt laut seine Unschuld beteuert. Was als strafbare Kinderpornografie verstanden wird, kann umstritten sein. Edathy beruft sich darauf, ihm werde kein strafbares Verhalten vorgeworfen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass von ihm möglicherweise bestelltes Material die Anforderungen des Tatbestands nicht erfüllt. Bilder beispielsweise, die Kinder nackt in unverfänglichen Situationen zeigen, etwa beim Baden oder am Strand, sind nicht strafbar. Anders sieht es aus, wenn die Kinder auf den Bildern sexuell aufreizende Posen einnehmen.

Möglich, dass Edathy Bilder bezogen hat, die noch nicht in eine eindeutige Richtung gehen. Dies könnte erklären, weshalb er nach den ihm „vorliegenden Informationen“ nicht davon ausging, strafrechtlich belangt zu werden. Allerdings fällt die erste Beurteilung in die Zuständigkeit der örtlichen Staatsanwaltschaft und liegt damit in Hannover. Dort war man seit geraumer Zeit mit dem Fall befasst, entschloss sich aber offenbar erst am Montag, ein förmliches Ermittlungsverfahren einzuleiten.

Es gibt übrigens einen Fall, der gewisse Parallelen aufweist. Auch über den Fall des Steuerhinterziehers Uli Hoeneß wusste Anfang letzten Jahres eine halbe Staatsregierung vorab Bescheid, die bayerische nämlich. Hoeneß hatte sich Anfang Januar selbst angezeigt. Eine Woche später informierten die Steuerbehörden das vorgesetzte Finanzministerium. Wieder eine Woche später wurde aus dem Steuerfall ein Strafverfahren, weil die Selbstanzeige offenbar nicht die Bedingungen erfüllte, die Steuersündern Straffreiheit garantiert. Genau an dem Tag, an dem die Finanzbehörden den Fall an die Staatsanwaltschaft München abgab, wurde auch Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) ins Bild gesetzt.

Seehofer erklärte den Vorgang seinerzeit zum Selbstverständlichsten in der Welt: Dass er als Regierungschef von wichtigen Vorgängen im eigenen Land erfahre, das sei doch wohl nichts weniger als normal.

Rücktrittsforderungen gegen Friedrich werden laut

Der Linken-Vorsitzende Bernd Riexinger hat mittlerweile die Ablösung von Bundeslandwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich (CSU) gefordert. Friedrich hatte eingeräumt, als Bundesinnenminister Informationen über die Ermittlungen an die SPD-Spitze weitergeleitet zu haben. "Friedrich hat den Schutz des künftigen Koalitionspartners über den Schutz der Rechtsordnung gestellt“, sagte Riexinger der “Mitteldeutschen Zeitung“. Friedrich sei “politisch als Mitglied der Bundesregierung nicht mehr tragbar.“ Der Linken-Chef forderte die Bundesregierung und die Koalitionsparteien auf, schnell und umfassend das Parlament und die Öffentlichkeit aufzuklären. Es sei zum Beispiel nicht plausibel, dass Kanzlerin Angela Merkel nichts von einem Vorgang dieser Reichweite gewusst haben solle.

Zur Startseite