Bespitzelungsaffäre in Berliner Koalition: Steht die Koalition in Berlin vor dem Ende?
Landespolitiker von SPD und CDU streiten um angebliche Bespitzelung, die Stimmung ist mies. Ein Faktenüberblick vor der heutigen Senatssitzung.
Die Ereignisse scheinen klar – alleine ihre Bewertung geht sehr weit auseinander. Die Berliner Senatskanzlei hat einen fünfseitigen Bericht über eine öffentliche Veranstaltung unter anderem mit dem für Flüchtlingsfragen zuständigen Sozialsenator Mario Czaja (CDU) geschrieben. Dies sei ein „Überwachungsprotokoll der übelsten Sorte“, sagte CDU-Generalsekretär Kai Wegner. „Wir wollen wissen, ob es noch mehr Dossiers über andere Mitarbeiter gibt, und ob dieser Stil des Regierenden Bürgermeisters gang und gäbe ist.“ Parteiintern ist die Rede von einer Bespitzelung in Stasi-Manier. Der Bericht gibt sehr detailliert und sachbezogen die Inhalte der Veranstaltung wieder.
Ist eine solche Beobachtung wie die des CDU-Senators in der Senatskanzlei üblich?
Vertreter von Parteien besuchen Parteitage anderer Parteien. Das ist Usus. Auch im Wahlkampf gibt es die „gegnerische Beobachtung“, ausgehend und organisiert von den Partei- und Wahlkampfzentralen. Regierungssprecher erzählen, dass es auch normal ist, fachliche Veranstaltungen zu besuchen oder Mitarbeiter hinzuschicken, wenn selbst keine Zeit bleibt. In der Berliner Senatskanzlei sei das auch üblich, sagt Senatssprecherin Daniela Augenstein. Sie weist den Vorwurf der Bespitzelung von sich. „Das war absolut nicht die Intention, sondern abzubilden, wie die Debatte auch emotional abläuft“, sagte sie. „Ich bedauere, wenn das falsch angekommen ist.“ Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) habe sie nicht dazu beauftragt. Es sei jedoch „Aufgabe der Senatskanzlei, die allgemeine Regierungspolitik zu begleiten. Da ist es wichtig, Debatten zu beobachten und Rückmeldungen zu geben“. Ein „Archiv“ dafür gebe es nicht. In diesem Fall habe der Mitarbeiter eine Mail geschrieben, die sie gelöscht habe. Langjährige frühere Mitarbeiter in der Senatskanzlei bestätigen, dass man über Veranstaltungen entweder kurze Berichte oder „je nach poetischem Impetus“ auch längere Schilderungen geschrieben habe. Habe man selbst keine Zeit gehabt, hätten Mitarbeiter Veranstaltungen besucht, darüber entweder mündlich oder schriftlich informiert. Allerdings sei es nicht üblich, dass solche Berichte an die Öffentlichkeit gelangen würden.
Wie ist der Zustand der Koalition?
Es herrscht zurzeit Eiszeit in der Koalition. Spätestens seit der Regierungserklärung von Michael Müller Mitte November, in der er seinen Koalitionspartner hart kritisierte und die Flüchtlingspolitik zur Chefsache machte, ist das Ende von Rot-Schwarz eingeläutet. Zehn Monate bis zur Wahl muss noch durchgehalten werden, eine vorzeitige Aufkündigung der Koalition will weder die SPD noch die CDU. Es ist ein Bündnis auf Abruf. Den Christdemokraten fehlt jedoch ein potenzieller Bündnispartner. Es gibt einige, die nicht so weit gehen wollen wie ihr Generalsekretär und von „Bespitzelung“ sprechen wollen. Sie sehen es als „Sturm im Wasserglas“, die Stimmung sei am Boden, die Lage aber stabil. Das hat auch viel mit dem Verhältnis zwischen dem CDU-Parteichef Frank Henkel und Michael Müller zu tun. „Das ist sanierungsbedürftig“, sagt ein Regierungsmitglied. Die beiden würden nicht klarkommen. Statt einmal zum Telefon zu greifen, um den anderen über Tatbestände zu informieren, herrsche eine Non-Kommunikation. Und das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Wie man ein sachliches, aber auch gutes Verhältnis aufbauen kann, zeigen CDU-Fraktionschef Florian Graf und SPD-Fraktionschef Raed Saleh. Die beiden müssen den Doppelhaushalt 2016/17 durchs Parlament bringen und haben Schwerpunkte festgelegt, wie die Gelder verteilt werden – auch ganz im Sinne von Wahlgeschenken wie einem Sicherheitspaket für die CDU und dem Einstieg in die kostenlose Krippe für die SPD.
Wie ist die Stimmung in der CDU?
Angesichts mangelnder Alternativen zu einer Koalition mit der SPD ist die Stimmung relativ düster. Dass sich Parteichef Henkel öffentlich nicht offensiv zu Müllers Kritik geäußert hat, kritisieren einige Parteifreunde zwar, aber sie sind mit dieser Position die absolute Minderheit. Henkel sitzt in der Partei fest im Sattel. Dass er Spitzenkandidat 2016 wird, stellt keiner infrage. Im Gegenteil: Es sei gut, dass Henkel sich von Müller nicht provozieren lasse. Und wenn Müller „denkt, dass wir nicht regieren können, dann muss er die Koalition beenden“.
Und die Stimmung in der SPD?
Müller hat seit seinem Amtsantritt im Dezember bei seinen Genossen gepunktet. Jan Stöß ist Parteichef, kämpft um ein Mandat fürs Abgeordnetenhaus. Und Raed Saleh ist unangefochten Fraktionschef, der seine Forderungen hart durchsetzt. Die Basis will mehrheitlich eine bessere Qualität statt Gebührenfreiheit in den Kitas. Saleh plädierte immer auch für eine Gebührenfreiheit für die Betreuung von unter Dreijährigen. Das hat er nun in der Koalition durchgesetzt. Zwar will man den Betreuungsschlüssel ein wenig verbessern. Wie zusätzliche Stellen finanziert werden sollen, bleibt unklar.
Warum streiten Michael Müller und Mario Czaja?
Zitieren lassen will sich damit niemand, aber im Senat ist durchaus zu hören, Sozialsenator Czaja müsse schon mal als „Prellbock“ für den Regierenden Bürgermeister her halten. Czaja selbst spricht im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise von einer „gesamtstädtischen Aufgabe, die nicht dazu geeignet ist, um daraus parteipolitischen Profit zu schlagen“. Der Regierende habe sich durch die Gründung des gesamtstädtischen Koordinierungsstabes „mit an die Spitze derer gestellt, die diese Aufgabe lösen“. Auch von Reibungsverlusten innerhalb des Senats will Czaja nichts wissen. Der Koordinierungsstab für Flüchtlingsfragen steht unter der Leitung des früheren Polizeipräsidenten Dieter Glietsch. Dieser steht im Rang eines Staatssekretärs und berichtet unmittelbar an den Regierenden Bürgermeister. Czaja zufolge arbeitet Glietsch in „gleichberechtigter“ Stellung mit seinem eigenen für Flüchtlingsfragen zuständigen Staatssekretär. Dabei arbeiteten beide „vertrauensvoll“ mit ihm zusammen. Diese Struktur sei Ergebnis des Senatsbeschlusses, und diese werde von allen Senatoren getragen. 60 000 Menschen seien seit Jahresanfang in der Stadt untergebracht worden, und dies sei eine große Leistung des Stabes und des ganzen Teams, das dahinter stehe.
Warum geht das Protokoll dem Senator so nahe?
Der Sozialsenator nennt es „völlig legitim“, dass Informationen aus Veranstaltungen zusammengetragen werden, wie es etwa auf Parteitagen der Fall sei. Aber das konkrete Protokoll habe Czaja „sehr daran erinnert an das, was meine Eltern aus der Zeit vor 1989 erzählt haben“. Das sei für ihn bisher eine historische Erfahrung, die er aufgrund seines Alters selbst noch nicht erleben musste.
Was sagen frühere Senatschefs zu der Affäre?
Berlins langjähriger Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) sagte dem Tagesspiegel: „Der Vorgang wäre nicht der Rede wert, wenn die Senatskanzlei das Protokoll gleich als Erstes Senator Czaja zugeschickt hätte.“ Weniger Aufregung bei der CDU gäbe es, wenn sie die im Vermerk beschriebene „ruhige und sachliche Darstellungsweise“ von Senator Czaja in den Vordergrund rücken würde. Dass die Stimmungslagen auf Veranstaltungen zu den beherrschenden Themen der Stadt beobachtet werden, sei für den Senat wichtig. Dass darüber aber ein schriftliches Protokoll angefertigt wird, sei „ungewöhnlich“. Was dies über den Zustand der Koalition aussage? Diepgen: „Die Koalitionspartner dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich aneinander gekettet fühlen, sondern dass sie die Probleme der Stadt lösen wollen.“ Der frühere Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) sagte, Vermerke über die Arbeit von Senatoren oder deren Aussagen in öffentlichen Veranstaltungen habe es auch zu seiner Zeit in der Senatskanzlei gegeben – „und es wurde auch darüber erzählt“. Da er den Inhalt des Protokolls über Czaja nicht kenne, wollte sich Momper dazu nicht näher äußern.
Was sagen die Parteifreunde?
Eine „grobe Ungeschicklichkeit“ nannte Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) die Protokollwut der Senatskanzlei. Andererseits sei „kein privates Abendessen oder eine Geheimveranstaltung“ aufgezeichnet und auch „nichts Geheimes enttarnt“ worden. Ob auch das Misstrauen an Czajas Eignung zur Lösung der Flüchtlingskrise ein Grund für dessen Beobachtung sei? „Ich bin gegen Schuldzuweisungen. Die Lage ist extrem komplex“, sagte Heilmann, aber die „Situation ist einzigartig und es fehlt an Unterstützung“. Fünf SPD-Bürgermeister würden trotz der Not keine Turnhallen zur Verfügung stellen. Im Übrigen sei die Flüchtlingsunterbringung Glietschs Sache. Dass die Koalition unter den ständigen Auseinandersetzungen und dieser Affäre auseinanderbrechen könne, wies Heilmann zurück: Bei den großen Themen wie der Bereitstellung der Turnhallen oder der Nutzung des Tempelhofer Feldes liefen die Fronten „quer durch die Parteien“.