Demoskopie: Steckt die Wahlforschung in der Krise?
Nur noch vier Wochen bis zur Bundestagswahl. In Umfragen liegt mal Schwarz-Gelb vorne, dann wieder gibt es eine linke Mehrheit. Die Wähler scheinen unberechenbar zu werden. Was taugen daher die klassischen Umfragen - und welche anderen Möglichkeiten gibt es?
Der Januar 2013 war ein schwarzer Monat für die Wahlforschung. Kein Umfrageinstitut hatte bei der Niedersachsenwahl das starke Abschneiden der FDP mit 9,9 Prozent auf der Rechnung. Die Umfragen sahen sie bis zwei Wochen vor der Wahl nur knapp oder gar nicht im Landtag. So kam es zu einem starken Stimmensplitting zu Lasten der CDU, möglicherweise brachte das Schwarz-Gelb um den Wahlsieg. Daher hat sich das ZDF jetzt entschlossen, ein Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen erstmals am Donnerstag vor der Bundestagswahl zu veröffentlichen - bisher wurden in der Wahlwoche selbst keine Zahlen mehr verbreitet, obwohl die Wahlforscher natürlich bis zuletzt die Bürger befragen. Werden damit aber die Wähler kurz vor der Wahl beeinflusst? Oder können sie damit auf einer verlässlicheren demoskopischen Grundlage abstimmen? Der Streit wird sich bis nach der Wahl fortsetzen. Ohnehin ist die Wahlforschung in der Kritik. Der Wert klassischer Umfragen wird angezweifelt. Die Demoskopie sei in der Krise, heißt es oft: veraltete Methoden, neue Konkurrenz, das Internet, größere Schwierigkeiten, das Stimmungsbild in der Wählerschaft korrekt abzubilden – so lauten die Analysen.
Was ist dran am Vorwurf, dass Umfragen nicht mehr funktionieren?
Sicher ist, dass die Meinungen in der Bevölkerung schwerer fassbar geworden sind. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen, Umfragepartner des Tagesspiegels, hat dafür eine Begründung: „Mit der geringeren Bindung der Wähler an bestimmte Parteien haben die Schwankungen zugenommen.“ Viele Wähler sehen sich nicht mehr als Anhänger einer Partei, sie sind offener; entsprechend ist die Zahl der Unentschlossenen bis kurz vor der Wahl weit höher als früher. Derzeit weiß ungefähr ein Drittel der Deutschen noch nicht, ob und wen sie am 22. September wählen. Das macht Prognosen schwierig, weshalb die Demoskopen gern darauf verweisen, dass ihre Umfragen nur Momentaufnahmen seien. Aber natürlich wird jede Umfrage als Prognose gelesen.
Warum wächst die Wechselbereitschaft der Wähler?
Eine Lesart ist, das Fünfparteiensystem habe dazu geführt, dass die Wähler eine größere Wechselbereitschaft zeigen. Jung sieht den Hauptgrund allerdings eher in der „Entideologisierung der Gesellschaft, einer stärkeren Orientierung hin zur Mitte, nicht zuletzt bei den wirtschaftspolitischen Vorstellungen“. Darauf reagierten die Parteien, der Abstand zwischen ihnen werde geringer. „Daher können sich mehr Wähler vorstellen, auch eine andere Partei zu wählen. Und damit steigt die Wechselbereitschaft.“ Die Wechselbereitschaft deutet sich auch in den Stimmungsbildern an, also den ungefilterten Antworten auf die „Sonntagsfrage“: Wen wählen Sie, wenn am kommenden Sonntag schon Wahl wäre? Als einziges der Umfrageinstitute macht die Forschungsgruppe Wahlen diese ungewichteten Daten publik. Sie gibt regelmäßig zwei Zahlenreihen heraus. „Dass wir zu unserer Projektion auch Stimmungswerte veröffentlichen, also letztlich die gemessenen Rohdaten der Sonntagsfrage, entspricht unserem Transparenzverständnis“, sagt Jung. Die Rohdaten werden nur leicht gewichtet, um die Verteilung an die Sollwerte der amtlichen Statistik anzupassen – also die Wählerstruktur nach Alter, Geschlecht, Bildung. Die Projektion dagegen ist die Einschätzung der Forschungsgruppe, was tatsächlich herauskäme, wäre am kommenden Sonntag wirklich eine Wahl. Dann würden sich manche Befragten nämlich anders verhalten. Der Projektion liegen, so die Forschungsgruppe, langfristige Erkenntnisse über das Wählerverhalten zugrunde. Letztlich wird das aktuelle Stimmungsbild um Überzeichnungen nach unten und oben bereinigt. So machen es alle Umfrageinstitute; das genaue Vorgehen beim Gewichten der Daten ist ihr Betriebsgeheimnis.
Die Sprünge im Stimmungsbild, also bei den Rohdaten, können erheblich sein: Die Union zum Beispiel schwankte in den letzten Wochen bei den Erhebungen der FGW zwischen 40 und 50 Prozent, aktuell liegt sie bei 46 Prozent. Die Projektion der Forschungsgruppe liegt dagegen weiterhin bei 41 Prozent. Die Mannheimer Demoskopen gehen derzeit also davon aus, dass hier eine Überzeichnung vorliegt. Das Stimmungsbild für die SPD liegt bei 27 Prozent, die Projektion geht von 25 Prozent aus. Erfahrungsgemäß liegen die FDP und die Linken in der Stimmung, bei den Rohdaten, schlechter als an einem Wahltag, womit sie in der Projektion dann höher eingestuft werden.
Wegen der mitunter recht großen Sprünge von Tag zu Tag und den unterschiedlichen Formen der „Gewichtung“ der Rohdaten unterscheiden sich auch die Umfrageprojektionen der einzelnen Institute. Die SPD etwa pendelt aktuell zwischen 22 Prozent (Forsa für den Sender RTL) und 26 Prozent (Insa für die "Bild"-Zeitung) – eine gute Übersicht dazu gibt es bei "wahlrecht.de". Doch sollte nicht zu viel in die Differenzen hineingeheimnist werden, auch wenn Forsa die SPD regelmäßig schwächer sieht als der Rest und dafür kritisiert wird, nicht zuletzt von Sozialdemokraten. Die Fehlertoleranz bei den großen Parteien liegt bei zwei bis drei Prozent. Das Online-Portal „pollytix“ bietet täglich aktualisiert Durchschnitte der Umfragen – das bügelt Verzerrungen aus.
Wie laufen die Umfragen ab?
Die meisten Institute nutzen weiterhin den klassischen Weg der Befragung: per Telefon, via Festnetz. Nur Allensbach führt direkte Gespräche, Insa nutzt einen Online-Pool mit festen Teilnehmern. Umfragen via Internet sind umstritten, weil nicht immer klar ist, wie repräsentativ sie sein können. Ein Problem ist, dass die Zahl derer wächst, die nur noch ein Mobiltelefon nutzen. Geschätzt sind es etwa zehn Prozent. Dadurch würden nicht mehr alle Wählergruppen erfasst, lautet der Einwand. „Wir schenken dem größeres Augenmerk“, sagt Jung. „Wir haben bei drei Politbarometern parallel auch jeweils gut tausend Mobiltelefonierer gefragt, also eine reine Mobil-Stichprobe gemacht – mit dem Ergebnis, dass die Differenzen im Hinblick auf die Wahlabsicht eher vernachlässigbar sind.“ Die Umfrage bei Festnetznutzern werde weiterhin die Basis des Politbarometers bleiben, zumal sie einen großen Vorteil habe: „Wir können damit im Gegensatz zu den Mobilnummern die Befragten regional genau zuordnen, was für eine repräsentative Umfrage sehr wichtig ist.“
Was taugen Wahlwetten und wissenschaftliche Prognosemodelle?
Konkurrenz bekommt die klassische Demoskopie seit einigen Jahren von zwei Seiten: den Wahlbörsen und der Wissenschaft. Wetten gelten seit langem als zuverlässige Indikatoren, jedenfalls wenn genügend Teilnehmer mitmachen und wenn auch Geld eingesetzt werden muss. Wahlbörsen gibt es einige im Internet. Parteien werden dort gehandelt wie Aktien. Zum Beispiel bei „Prognosys“, wo (Stand: 23. August abends) Schwarz-Gelb abgewählt wird und die Alternative für Deutschland knapp in den Bundestag einzieht. Bei „wahlfieber.de“ oder „interwetten.com“ wird eine Vielzahl von Wahlwetten angeboten. Auch Spiegel-Online veranstaltet eine Wahlwette, sogar mit Preisen, das bringt Kundschaft und Klicks. Aktuell liegt die Opposition dort klar vor Schwarz-Gelb. Die Ergebnisse von Wahlwetten liegen freilich oft relativ nahe an den Umfragen – die sind nun einmal die am einfachsten zu verfolgende Quelle für die Einschätzungen der Wettenteilnehmer.
Wie korrekt ist das "Kanzler-Modell"?
Von Wissenschaftlern gibt es mehrere statistische Prognosemodelle. Einen originellen, aber nach eigener Aussage sehr präzisen Ansatz, das Wahlergebnis vorauszusagen, haben die Politologen Thomas Gschwend und Harald Norpoth gefunden - das "Kanzler-Modell". Sie präsentieren keine Zahlen für die einzelnen Parteien, sondern prognostizieren den Erfolg oder Misserfolg der Regierungskoalition. Bei der ersten Anwendung 2002 sagten sie 47,1 Prozent für Rot-Grün voraus, also das exakte Endergebnis vom Wahlabend – „möglicherweise Anfängerglück“, wie Gschwend und Norpoth zugestehen. Auch 2005 lagen die Politologen nicht weit weg vom Ergebnis (42 Prozent für die abgewählte rot-grüne Koalition, tatsächlich waren es 42,3). 2009 war die Prognose weniger exakt, aber der Wahlsieg von Schwarz-Gelb wurde Wochen vor der Wahl vorausgesagt. Für alle Wahlen seit 1949 (im Nachhinein berechnet) habe die durchschnittliche Abweichung bei 1,1 Prozent gelegen, schreiben Gschwend und Norpoth. Die Wahrscheinlichkeit, richtig zu liegen, wird mit 96 Prozent beziffert. Das Prognosemodell basiert auf drei Faktoren: dem längerfristigen Wählerrückhalt der Regierungsparteien, der „Abnutzung im Amt“ (schließlich hat noch jede Regierungspartei irgendwann nachgelassen), vor allem aber der Popularität des amtierenden Kanzlers kurz vor der Wahl (basierend auf dem Politbarometer). Laut Gschwend und Norpoth gewinnt die schwarz-gelbe Koalition im September die Wahl komfortabel, möglicherweise sogar mit der absoluten Mehrheit der Stimmen. Das Modell ist letztlich aber auch an Umfragedaten gebunden, statt der Sonntagsfrage ist es die „Kanzlerfrage“, der entscheidende Bedeutung zukommt. Im letzten Politbarometer lag Merkel mit 63 Prozent Zustimmung deutlich vor ihrem Herausforderer Steinbrück (29 Prozent).
Ist das relative Wachstum ausschlaggebend?
Ein anderes wissenschaftliches Prognosemodell haben Mark Kayser und Arndt Leininger von der Hertie School of Governance in Berlin ausbaldowert. Es ist ein Modell, das vor allem die wirtschaftliche Situation im Wahljahr als Basis hat – genauer: das Wachstum, und zwar im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und Italien. Es heißt daher „Benchmarking-Modell“. Kayser und Leininger gehen davon aus, dass die Beichterstattung über die Wirtschaftslage positiver ausfällt, wen die Situation im Vergleich zu benachbarten Ländern besser ist. Und das ist im Sommer 2013, trotz der mageren Wachstumsraten, der Fall. Auch hier spielt der längerfristige Rückhalt der Regierungsparteien eine Rolle, dazu der aktuelle Anteil der Wähler, die sich mit den Regierungsparteien identifizieren (dafür sind Umfragedaten nötig), zudem auch hier ein „Abnutzungseffekt“. Aus den vier Variablen berechnen Kayser und Leininger das wahrscheinliche Ergebnis für die amtierende Koalition. Angewendet auf die zurückliegenden Wahlen seit 1980 habe die größte Abweichung bei 1,8 Prozentpunkten vom tatsächlichen Wahlergebnis gelegen, und zwar für die Wahl 2005. Für den 22. September prognostizieren Kayser und Leininger 47,05 Prozent für die Union und die FDP zusammen. Und das reicht mit hoher Wahrscheinlichkeit für ein Weiterregieren von Schwarz-Gelb. Gestützt wird das dadurch, dass die Einschätzung der Wirtschaftslage im Politbarometer derzeit so gut ist wie nie zuvor seit 1996.
So sind zu den klassischen Umfragen eine ganze Reihe von Konkurrenten getreten. Den Schnitt all dieser Stimmungsbilder und Wetten und Prognosen (plus selbst erhobene Befragungen von Politologen und Journalisten) ermittelt das Portal „Pollyvote“, das Wissenschaftler der Universität München betreiben. Aktueller Stand dort: Union 39,6, SPD 24,7, Grüne 12,6, Linke 7,3, FDP 6,0, AfD 3,5, Piraten 2,9. Im Vergleich dazu das aktuelle Politbarometer: Union 41, SPD 25, Grüne 13, Linke 8, FDP 6, AfD und Piraten unter 3.
Sind Umfragen verzichtbar? Was ist Ihre Meinung?
Wohl kaum. Die klassische Demoskopie mag zwar Konkurrenz bekommen haben, sie mag in der Kritik sein, sogar in der Krise. Aber weil auch Wetten und Statistikmodelle letztlich auf Umfragedaten basieren, wenn auch nicht allein, sind sie als Orientierungsmarken wohl unersetzlich. Und Wähler wollen wissen, wie es gerade steht im politischen Spiel namens Bundestagswahl. Sie befriedigen eine verbreitete Neugier. Umfragen mögen unzulänglich sein, weil sie die Wirklichkeit nie ganz treffen, und sie taugen nicht als exakte Prognosen des Wahlergebnisses. Es sind eben Momentaufnahmen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. Nicht mehr, nicht weniger.