zum Hauptinhalt
Aufgepasst: Griechische Polizisten überwachen die Landesgrenzen.
© Arvanitidis/dpa

Bericht über Europas Grenzen: Statt über den Balkan jetzt Flucht übers Meer

Die EU-Grenzagentur Frontex vermeldet sinkende Migrationszahlen. Viele suchen sich aber nach dem Ende der Balkanroute andere, gefährlichere Wege.

Ein knappes Jahr nach dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens über die Rücknahme von Flüchtlingen sieht Europas Grenzschutzagentur Frontex einen deutlichen Rückgang der Zahlen. Die Vereinbarung sei „ein wichtiger Faktor“ gewesen, um Migranten von der Überfahrt Richtung Griechenland abzuhalten; es habe auch „das Geschäftsmodell von Menschenschmuggler-Netzen unterminiert“, heißt es im jährlichen Bericht von Frontex, der unter dem Titel „Risiko-Analyse“ erscheint („Frontex Risk Analysis for 2017“). Man habe 2016 511.000 Grenzübertritte ohne entsprechende Papiere registriert – Frontex spricht von illegaler Einreise – was 382.000 Neuankömmlingen entspreche. Damit liege die Zahl immer noch deutlich über dem Schnitt der Jahre vor 2015.

Frontex hat seit 2016 noch mehr Geld und viel mehr Rechte

Das Schmugglergeschäft scheint allerdings nach den Erkenntnissen der Warschauer EU-Behörde an anderer Stelle zu blühen. Nach der Quasi-Schließung der Balkanroute haben sich die Routen weiter nach Westen und auf hohe See verlagert: Frontex selbst spricht von „wachsendem Migrationsdruck aus Afrika, vor allem auf der Route von Libyen nach Italien“. Italien habe im vergangenen Jahr die höchste Zahl von Neuankömmlingen an seinen Küsten verzeichnet, 182.000 Menschen.

Ein deutlicher Anstieg sei dabei für Westafrika zu verzeichnen gewesen. Die Befragungen von Frontex ergaben, dass praktisch alle Fluchthelfer benötigen – dies hätten 96 Prozent der neu ankommenden Migranten aus dem zentralen Mittelmeer erklärt, die man befragt habe. Flüchtlingshilfsorganisationen kritisieren seit Jahren, dass der Mangel an legalen Wegen und die zunehmende Abdichtung der EU-Land- und Seegrenzen erst die Geschäftsgrundlage für Schlepper schaffe.

Dem Bericht nach kommt „eine wachsende Zahl verletzlicher Personen“ durchs zentrale Mittelmeer, „besonders nigerianische Frauen“. Schon um Menschen vor sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit in Europa zu schützen, sei es nötig, dass Frontex sie rechtzeitig entdecke. Die Mittel für Frontex wurden im vergangenen Jahr erneut massiv aufgestockt; die Behörde, die mittlerweile als „Europäische Grenz- und Küstenschutzagentur“ firmiert, hat auch mehr Rechte erhalten, Daten zu sammeln.

"Kein EU-Türkei-, sondern ein EU-Griechenland-Deal"

Die Göttinger Kulturanthropologin Sabine Hess, Expertin für Grenzregime, sieht im Hinweis auf die nigerianischen Frauen einen rhetorischen Trick im europäischen Diskurs über Migration: „Während Trump eine Mauer baut, also die Brechstange gebraucht, setzt die EU auf das, was wir in der Forschung Humanitarismus nennen“, sagte Hess dem Tagesspiegel. „Das Argument heißt: Wir brauchen besseren Grenzschutz, um die Ärmsten vor dem Ertrinken zu bewahren und die Allerärmsten sind Frauen, die sonst in die Sexarbeit gezwungen werden. Während Trumps Mauer böse ist, ist die europäische Mauer eine gute.“

Hess hält auch die Darstellung des EU-Türkei-Deals für mindestens irreführend: „Es handelt sich in Wirklichkeit um einen EU-Griechenland-Deal.“ Die Türkei tue in Wahrheit nichts, um Flüchtlinge von der Überfahrt nach Europa abzuhalten. „Was die Menschen abhält, ist die europäische Strategie, ihnen auf den griechischen Inseln das Leben zur Hölle zu machen.“ Der türkische Beitrag sei eher, dass es den Menschen dort vergleichsweise gut gehe, während sie auf den Inseln „systematischer Menschenrechtsverletzung“ ausgesetzt seien. Auch mithilfe von EU-Geld seien die Bedingungen in der Türkei besser geworden, die Menschen könnten sich, wenn auch schlecht bezahlte, Arbeit suchen und sich frei bewegen, „während Griechenlands Inseln ein Open-Air-Gefängnis sind“.

Illegale oder Flüchtende?

Die ankommenden Menschen, die im Frontex-Bericht als meist als Illegale auftauchen, kommen auch nach Erkenntnissen der Agentur mehrheitlich aus Kriegs- und Notstandsgebieten. Im vierten Jahr in Folge, heißt es darin, waren Menschen, die angaben Syrer zu sein, die größte Gruppe (17 Prozent im Jahr 2016), gefolgt von afghanischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern (11 Prozent) und Irakern, deren Zahl (sechs Prozent) Frontex "bemerkenswert" nennt.

Der Bericht enthält daneben auch einen Blick auf die EU-Ostgrenzen. Demnach bleiben auch dort die Zahlen derer hoch, die ihre Länder Richtung EU verlassen. Die meisten seien russische Staatsbürger, vermutlich Tschetschenen. Auch in Tschetschenien herrscht seit vielen Jahren Krieg.

Abschiebungen gelingen nicht einmal in der Hälfte der Fälle

Der Bericht, den Frontex-Chef Fabrice Leggeri am Mittwoch in Brüssel präsentierte, gesteht auch ein, dass die EU-Staaten es kaum durchsetzen können, dass unerwünschte Ankömmlinge Europa wieder verließen. Von rund 305.000 Ausreiseentscheidungen wurden mehr als 40 Prozent im vergangenen Jahr nicht umgesetzt. Rund 176.000 Mal wurden Menschen in ihre Herkunftsländer oder andere Staaten außerhalb Europas zurückgebracht. Das entspricht einer Quote von knapp 58 Prozent.

Die tatsächliche Quote dürfte noch niedriger liegen, da vier EU-Staaten im vergangenen Jahr zeitweise jede Entscheidung für eine Ausreise so zählten, als ob die betreffende Person das Land auch tatsächlich verlassen hätte. Frontex führt die Zahlen auf mehrere Probleme zurück. So fehlen oft die nötigen Papiere, die Herkunftsländer wollen ihre Bürger nicht zurücknehmen oder abgelehnte Asylbewerber und andere Migranten tauchen in Europa unter.

Zur Startseite