EuGH-Urteil: Stammzellen sind kein banales Ausgangsmaterial
Der Europäische Gerichtshof verweigert die Patentierung von Stammzellen, wenn Embryonen dafür zerstört werden müssen. Im langjährigen Verfahren um das Patent von Oliver Brüstle übernimmt nun wieder der Bundesgerichtshof.
Berlin - Patente auf Zelllinien aus Stammzellen darf es zumindest dann nicht geben, wenn für das Ausgangsmaterial menschliche Embryonen zerstört werden mussten. So hat es der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Dienstag in einem mit Spannung erwarteten Urteil entschieden. Es hat eine lange, verwickelte Vorgeschichte und betrifft eine ausgesprochen komplexe Materie.
Alles begann damit, dass der junge Neurowissenschaftler Oliver Brüstle, gerade aus den USA zurückgekehrt, im Jahr 1997 ein Patent über „neuronale Vorläuferzellen, Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung zur Therapie von neuronalen Defekten“ beim Deutschen Patentamt in München einreichte. Brüstle hoffte und hofft, damit eines Tages zur Heilung von Nervenleiden wie Parkinson und Multipler Sklerose (MS) beitragen zu können. 1999 wurde ihm das Patent auch erteilt.
Brüstle, seit einigen Jahren Leiter des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie an der Universität Bonn, arbeitet unter anderem mit embryonalen Stammzelllinien, die aus Israel kommen. Im Jahr 2002 wurde dafür in Deutschland durch das Stammzellgesetz für „hochrangige wissenschaftliche Ziele“ und die Entwicklung neuer Behandlungsverfahren prinzipiell grünes Licht gegeben, die Projekte bedürfen allerdings der Genehmigung einer beim Robert- Koch-Institut angesiedelten Kommission, die embryonalen Stammzelllinien dürfen nicht in Deutschland und nicht nach dem Stichtag 1.5.2007 gewonnen worden sein. So soll verhindert werden, dass Embryonen eigens für die „verbrauchende“ Forschung erzeugt werden. Ausgangspunkt sind heute meist befruchtete Eizellen, die im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung gewonnen und anschließend nicht in die Gebärmutter eingepflanzt wurden.
Gegen Brüstles Patent klagte die Organisation Greenpeace im Jahr 2004 mit Verweis auf die EU-Biopatentrichtlinie von 1998, in der der „menschliche Körper in den einzelnen Phasen seiner Entstehung und Entwicklung geschützt“ werden und die Verwendung von menschlichen Embryonen zu „industriellen oder kommerziellen Zwecken“ als nicht patentierbar bezeichnet wird. Das Bundespatentgericht gab Greenpeace in Teilen recht, Brüstle legte Berufung ein, der Fall landete beim Bundesgerichtshof. Im November 2009 beschloss der, ihn an den EuGH weiterzuleiten. Die Richter verbanden damit die ausdrückliche Bitte an ihre europäischen Kollegen, sie sollten den schwierigen Begriff „menschlicher Embryo“ präzise auslegen. In Ländern wie Großbritannien oder Schweden gilt er erst 14 Tage nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle.
Im Vorfeld des jetzigen Urteils hat sich Generalanwalt Yves Bot im März 2011 diesem kniffligen Problem gestellt. Mit seinem Urteil folgt das Gericht nun im Wesentlichen der Argumentation, die schon in dieser Stellungnahme des Generalanwalts zu finden ist. Embryonen im Sinne der Patentrichtlinie – und damit von der Patentierung ausgeschlossen – sind demnach in den ersten Tagen nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle alle „Alleskönner“-Zellen, aus denen ein vollständiger Mensch werden könnte.
Auch unbefruchtete Eizellen, in die nach dem „Dolly-Verfahren“ der Kern einer ausgereiften Zelle verpflanzt wurde, gelten als Embryonen. Die „pluripotenten“ embryonalen Stammzellen, die einem Embryo etwa ab dem fünften Tag im Blastozysten-Stadium entnommen werden und aus denen kein vollständiges Lebewesen mehr werden kann, nimmt der Generalanwalt in seinem Statement davon ausdrücklich aus.
Entscheidend seien hier aber die Herkunft der Zellen und die Art, in der sie gewonnen wurden. Nach Auffassung des Generalanwalts können Erfindungen, die sich auf pluripotente Stammzellen beziehen, nur patentierbar sein, wenn diese Zellen nicht „zu Lasten eines Embryos“ gewonnen werden, sei es durch dessen Zerstörung oder durch dessen Schädigung. Eine Erfindung, die solche embryonalen Stammzellen verwendet, industriell anzuwenden, hieße, „menschliche Embryonen als banales Ausgangsmaterial zu benutzen, was gegen die Ethik und die öffentliche Ordnung verstoßen würde“.
In einem Offenen Brief, der am 28. April 2011 in der Zeitschrift „Nature“ erschien, kritisierten dreizehn namhafte Stammzellforscher aus ganz Europa unter Federführung des britischen Biochemikers Austin Smith diese Stellungnahme von Yves Bot. „Embryonale Stammzellen stammen von überzähligen, in vitro befruchteten Eizellen ab, die nach einer Fruchtbarkeitsbehandlung gespendet wurden, und können beliebig lang weiter genutzt werden.“ Da mittlerweile in Zellbanken mehr als hundert Zelllinien verfügbar seien, sei die Sorge, menschliche Embryonen könnten hierfür kommerzialisiert werden, zudem nicht angebracht.
In der Forschung werden mittlerweile große Hoffnungen auf sogenannte induziert pluripotente Stammzellen (iPS) gesetzt: Ausgangsmaterial sind Zellen von Erwachsenen oder Kindern, die durch Reprogrammierung ihre Alleskönnerqualitäten zurückgewinnen. Ohne die Erkenntnisse aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen geht es aber auch bei dieser ethisch unproblematischen Forschungsrichtung nach Ansicht des Neurophysiologen Jürgen Hescheler von der Universität Köln nicht. „Das Urteil ist für uns Stammzellforscher ein Rückschlag, der die Entwicklung von Therapien betrifft und der sich zum Schaden der Patienten auswirken könnte“, sagte der Kölner Forscher dem Tagesspiegel.
Im langjährigen Verfahren um das Patent von Oliver Brüstle übernimmt nun wieder der Bundesgerichtshof: Er muss ein Urteil fällen, das den Vorgaben des EuGH entspricht. Und selbst dann dürfte der Streit um die Forschung mit Zellen, die aus embryonalen Stammzellen abgeleitet sind, noch längst nicht beendet sein.
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