Das nächste Krankenhaus 70 Kilometer entfernt: Spindeldürr und hilflos – wieso im Jemen Kinder verhungern
In einer Woche sah sie 35 Kinder sterben, sagt eine Krankenschwester. Dem Jemen droht die größte Hungersnot der Welt. Ein Ortsbesuch in der Frontstadt Tuhayta.
Unter einem schiefen Dach neben der Hauptstraße von Khowkha läuft ein Kamel ununterbrochen im Kreis. Seine Augen sind mit Blenden aus Bast zugehängt, damit das Tier nicht von seiner ihm aufgezwungenen Aufgabe abgelenkt wird. Es betreibt eine Mühle, die Sesamkörner zu Öl zerquetscht. Es ist eine erbärmliche Szene, die man als Allegorie auf die jemenitische Heimat des Kamels verstehen kann.
Von Khowkha aus führt die Straße an der Küste des Roten Meeres entlang. Sie ist erstaunlich gut, einmal abgesehen von den Pockennarben und seltenen großen Löchern im Asphalt, die von vergangenen Gefechten stammen. Murat Ali muss seinen Wagen ohnehin alle paar Kilometer stoppen: an einer der unzähligen Straßensperren, die von Bewaffneten betrieben werden.
Mal sind es die verwegenen, oft langhaarigen Kämpfer der Tihamah-Clans, mal die bärtigen Glaubenskrieger unter dem Banner Al-Amaliqas, mal die uniformierten Soldaten der Nationalen Widerstandsarmee. Im Jemen kommt es regelmäßig vor, dass Verbündete plötzlich zu Feinden werden. Die jüngsten Ruinen in Aden, der Hauptstadt des einstigen Südjemens, zeugen davon.
Hinter der 20. Straßensperre biegt Murat in die Wüste ab, der Asphalt endet, eine holprige Piste beginnt. Auf den nahegelegenen Dünen tauchen die ersten Gefechtsstände auf: mit Sandsäcken gesichert, säumen sie die nächsten 30 Kilometer den Frontverlauf. Diese Seite der Wüste wird von der saudisch finanzierten Koalition aus Clan-Milizen, religiös motivierten Bürgerwehren und den Truppen der international anerkannten Regierung beherrscht. Jenseits der Dünen haben die Huthis das Sagen. Die schiitische, aus dem Norden des Landes stammende Volksgruppe wird vom Iran unterstützt.
Die Rivalität zwischen den saudischen und iranischen Erzfeinden ist nur eine der Ursachen für die seit zwanzig Jahren in unterschiedlichen Konstellationen geführten Kriege. Andere sind die Interessensunterschiede der Nord- und Südjemeniten und Spannungen zwischen den Clans, die schnell eskalieren.
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Nach dem Sturz des autokratischen Herrschers Ali Abdullah Saleh während des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren beschleunigte sich die Auflösung der vom Kolonialismus, dem Kalten Krieg und dem US-Feldzug gegen den islamistischen Terror zerrütteten Nation noch. Heute gilt die „Wiege Arabiens“ als Paradebeispiel eines gescheiterten Staates: Ohne funktionierende Institutionen, ohne gemeinsame Vision, mit einem Präsidenten, der im Nachbarland lebt.
An der Front vor Tuhayta geht es eher entspannt zu. Die Kämpfer sind mit Wasserholen, Wäschewaschen oder der Pflege ihrer Pickups mit den aufmontierten schweren Maschinengewehren beschäftigt. Nur ab und zu kommt es zu Zwischenfällen. So erfährt man es zumindest in der Klinik, die „Ärzte ohne Grenzen“ in der Küstenstadt Mocha betreibt. Hier werden Kriegsverletzte, oftmals 50 pro Woche, versorgt – egal ob es sich um Zivilisten oder Milizionäre handelt.
Heftige Kämpfe toben dieser Tage um die gut 500 Kilometer weiter nordöstlich gelegene Erdölstadt Marib. Dort feuern Huthi-Kämpfer iranische Raketen in die Stadt voller Flüchtlinge, die saudische Luftwaffe reagiert mit Gegenschlägen. Täglich nimmt die Zahl der Opfer um mehrere Dutzend zu. Tariq Saleh, Kommandeur der Nationalen Widerstandsarmee, will hier im Südwesten einen Entlastungsangriff starten, um die Huthis zum Abzug von der Marib-Front zu zwingen. Doch die Saudis haben ihm bisher kein grünes Licht gegeben.
27 Prozent der Unter- Fünfjährigen sollen akut unterernährt sein
Am Horizont tauchen die Fernmeldemasten von Tuhayta auf, eine rund 25.000 Einwohner zählende Stadt, die gleich auf drei Seiten von der Front umgeben ist. Die Außenbezirke sind menschenleer, weil sie von den Präzisionsgewehren der Scharfschützen erreicht werden können. Dafür geht es im Stadtzentrum umso geschäftiger zu. Dorthin sind auch die Bewohner der umliegenden Siedlungen geflohen.
Tuhayta ist von bewässerten Feldern und Palmenplantagen umgeben, die inzwischen allerdings unzugänglich sind: Sie sind vermint. Alles, was in der Stadt gebraucht wird, muss über die Wüstenpiste herangeschafft werden. Die Preise sind in die Höhe geschossen. Ein Kilo Kartoffeln kostet heute das Fünffache vom Vorjahr, Brot ist um das Dreifache teurer geworden. Leitungswasser gibt es nur noch an einem Tag in der Woche, weil für die sechs Dieselpumpen kein Sprit mehr zur Verfügung steht und die einzige Solarpumpe nur jeweils einen Teil der Stadt versorgen kann.
Gegenwärtig führt die belgische Sektion der Ärzte ohne Grenzen eine Umfrage zur Ernährungslage der Bewohner Tuhaytas durch. Bislang hatten die drei UN-Organisationen FAO, WFP und Unicef einen groben Überblick darüber, wie schlimm es steht. Nach diesen Schätzungen sollen 27 Prozent der Unter-Fünfjährigen akut unterernährt sein – mehr als in allen anderen Teilen des Landes.
Als sich herumspricht, dass Vertreter einer ausländischen Hilfsorganisation in der Stadt sind, kommen Mütter mit ihren spindeldürren Kindern in die Klinik geeilt. Unter ihnen ist der acht Monate alte Abdulrahman, dessen aufgerissene Augen schon von der Angst vor dem Tod gezeichnet sind. Der Junge nehme schon seit Tagen keine Nahrung mehr zu sich, berichtet seine Mutter. Werde er nicht unverzüglich in eine Klinik mit der richtigen Ausrüstung gebracht, müsse er in Kürze sterben, sagt die portugiesische Ärztin Mariana Perez Duque.
Doch das nächste ausreichend ausgerüstete Hospital ist mehr als 70 Kilometer weit entfernt – für Abdulrahmans verarmte Mutter unerreichbar.
Sie habe in den vergangenen Wochen schon 35 Kinder sterben gesehen, sagt Krankenschwester Fatima Fahmy. Darunter auch den Bruder des dreijährigen Abdullah, der federleicht und hilflos wie ein Säugling auf dem Arm seines Onkels kauert. Abdullah wiegt nicht einmal sechs Kilogramm und winselt vor sich hin. Er nimmt seit Tagen nichts mehr zu sich.
Bisher ist noch kein einziger Hilfstransport in der Stadt eingetroffen
Die UN-Schätzung, wonach in der Region um Tuhayta fast ein Drittel aller Kinder akut unterernährt sind, ist bereits vier Monate alt. Trotzdem ist noch kein einziger Hilfstransport in der Stadt eingetroffen. UN-Mitarbeiter dürften die Stadt aus Sicherheitsgründen nicht ansteuern, erklärt Raphael Veicht, Chef der belgischen Mission von „Ärzte ohne Grenzen“.
Neben dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sind die „Ärzte ohne Grenzen“ die einzige ausländische Organisation, die sich in die Frontstadt wagt. In der 150 Kilometer entfernten Küstenstadt Mocha befinde sich ein Lagerhaus voller Hilfsgüter des Welternährungsprogramms der UN, sagt Veicht: ein Skandal, dass diese nicht längst an die Bevölkerung verteilt worden seien. Seit Wochen warnt UN-Chef António Guterres vor der „schlimmsten Hungersnot der Welt seit Jahrzehnten“. Getan wird nichts dagegen, während in Tuhayta die Kinder verhungern.
Von den Minaretten der Moscheen sind die Rufe der Muezzine zum Mittagsgebet zu hören. Es ist höchste Zeit, die Stadt zu verlassen. Nach dem Gebet pflegen sich die meisten männlichen Jemeniten zum Kauen von Khat zurückzuziehen. Ein mildes Rauschmittel, das den Hunger zügelt und den Tatendrang anregt.
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Aus der Ferne sind schon die ersten Explosionen von Mörsergranaten zu hören. Auf dem Rückweg scheinen die Betreiber der Straßenblockaden alle geschwollene Wangen zu haben. Zur besseren Aufnahme des Wirkstoffs in den Blutkreislauf wird der halb zerkaute Pflanzenbrei noch stundenlang in der Backe gelagert.
Fahrer Murat muss sich jetzt Sorgen machen, wie das Kraut bei den Betreibern der nächsten Straßensperre angeschlagen hat. Bei der Vorbeifahrt in Khowkha liegt das ausgespannte Kamel erschöpft am Boden. Für die Jemeniten beginnt die gefährlichste Zeit des Tages mit der hereinbrechenden Nacht.
Johannes Dieterich
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