20 Jahre Mauerfall: Speckbraten vor der Flucht in den Westen
Hunderte DDR-Bürger nutzten vor 20 Jahren ein "Grenzpicknick" in Ungarn zur Massenflucht – ein Test auch für Moskaus Haltung.
Speckbraten sollte es geben, zur Feier des Tages. Doch was genau beim „Paneuropäischen Grenzpicknick“ am 19. August vor 20 Jahren in der Nähe der ungarischen Stadt Sopron nahe zu Österreich eigentlich gefeiert werden sollte, war selbst den Organisatoren im Vorfeld nur ungefähr klar. Offiziell wollten Österreicher und Ungarn aus den Grenzdörfern, die schon nicht mehr durch den Eisernen Vorhang getrennt waren, auf einer Wiese zusammenkommen, sich womöglich ein Stück Draht von den Resten des Zauns als Andenken mitnehmen. Schließlich aber nutzten Hunderte von DDR-Bürgern das Fest zur Massenflucht, und das Fest bekam einen zentralen Platz in der Geschichte der Grenzöffnung.
Ungarn war in diesen Wochen voll von Ausreisewilligen aus der DDR. Tausende campierten in Lagern in Budapest und am Balaton. Und je näher die von Ungarns junger Opposition organisierte Veranstaltung heranrückte, umso politisch aufgeladener wurde die Angelegenheit. Der CSU-Politiker Otto von Habsburg, Präsident der Paneuropa-Union, wurde neben Ungarns Staatsminister Imre Pozsgay – damals einem der wichtigsten Reformpolitiker im Land – als Schirmherr gewonnen. Um niemanden zu reizen, sagten beide kurz vor der Veranstaltung ihre Teilnahme ab. Der Journalist Andreas Oplatka zeichnet in seinem Buch „Der erste Riss in der Mauer“ nach, was die Reformkommunisten in Budapest damals diskutierten. Pozsgay sei es darum gegangen, „Verhandlungen zwischen Ungarn und der DDR, von denen er sich nichts Gutes versprach, durch verstärkten Druck auf die Grenze zu unterlaufen“. Vollendete Tatsachen sollten geschaffen werden, eine Situation, in der Ost-Berlin seinen Einfluss auf den Nochbruderstaat Ungarn verliert. Auch aus der Konzeption des damaligen Regierungschefs Miklós Németh galt das Picknick demnach von Anfang an als Test, bei dem sich erweisen sollte, wie die Sowjets auf eine erste, „kleine“ Grenzöffnung und Fluchtbewegung reagieren würden.
Einen Schießbefehl gab es an der ungarischen Grenze schon nicht mehr. Wohl aber waren die Soldaten berechtigt, zur Selbstverteidigung zu den Waffen zu greifen. Was, wenn hunderte Flüchtlinge die Grenzwächter einfach über den Haufen rennen? Die Nachricht über eine angeblich geplante Grenzöffnung hatte sich unter Ausreisewilligen herumgesprochen. Etwa in der Kirchgemeinde „Zur heiligen Familie“ im Budapester Viertel Zugliget hatten Pater Imre Kozma und seine Helfer die Ostdeutschen mit Landkarten ausgestattet, damit diese von Sopron aus den Festplatz finden konnten. Zum provisorischen Grenzübergang waren nur fünf ungarische Grenzbeamte mit ihrem Kommandanten Árpád Bella beordert worden. Der hatte nach eigener Erinnerung keine Minute zum Nachdenken. Waffengebrauch, so der Oberstleutnant, und wären es nur Warnschüsse gewesen, hätte unweigerlich zu Tumulten und womöglich zu Todesopfern geführt. Nach dem 19. August warf man Bella Befehlsmissachtung vor, erst nach der Grenzöffnung im September wurde er vielfach geehrt.
An diesem Mittwoch reist Kanzlerin Angela Merkel zu den Gedenkfeierlichkeiten nach Sopron reisen, den Ungarn danken, dass sie die „Öffnung der Mauer unumkehrbar gemacht“ hätten. „Wahnsinn, hab ich gedacht, Wahnsinn“, erinnert sich Walburga Habsburg, die vor 20 Jahren ihren Vater beim Grenzpicknick vertrat. Konnte sie damit rechnen, dass der Test gelang, dass Michail Gorbatschows Sowjetunion stillhielt? Oder fürchtete Habsburg auch eine bösartige Wendung? Buchautor Oplatka vertraute sie an: „Ich glaube, dass ich dazu zu naiv war und zu viel Gottvertrauen hatte.“