Wolfgang Merkel: „SPD muss Anspruch der Volkspartei aufgeben“
"Ich sehe zwei Konflikte": Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel über den Existenzkampf der Sozialdemokratie und die Debatte um offene Grenzen. Ein Interview.
Herr Professor Merkel, wie fällt Ihre Bilanz nach den ersten 100 Tagen der SPD in der Regierung aus?
Nachdem die SPD sich unter größten Mühen noch einmal in die Regierung gerettet hat, müsste spätestens jetzt erkennbar sein, dass sie sozialdemokratische Politik macht. Macht sie aber nicht. Dabei wäre ein schärferes sozialdemokratisches Profil notwendig, wenn die SPD am Ende der großen Koalition nicht wieder untergehen will.
Was machen die SPD-Minister falsch?
Sie starten nicht durch. Sie haben sich defensiv eingemauert. Finanzminister Olaf Scholz will offenbar die Austeritätspolitik seines Vorgängers Wolfgang Schäuble fortsetzen. Das mag deutsch sein, sozialdemokratisch ist es nicht. Und Außenminister Heiko Maas erklärt, er sei weiß Gott nicht wegen Willy Brandt in die Politik gegangen. Die Abkehr von der Idee einer Ostpolitik und Sanktionen gegen Russland halte ich für einen großen Fehler. Unseren Interessen dient es jedenfalls nicht.
Die SPD hat ihr Wahldesaster von 2017 analysieren lassen. Überzeugt Sie der Bericht, den die Experten vorgelegt haben?
In Teilen durchaus. Der Bericht benennt Fehler, insbesondere der SPD-Führung. Er wirft Licht auf Strukturprobleme der Partei, etwa den Umstand, dass die Führung nicht hinreichend verzahnt ist mit dem Mittelbau und die Funktionäre nicht mit der Basis. Die Untersuchung hat allerdings einen etwas technischen Zuschnitt. Sie tut so, als könne die SPD ihre Probleme mit genialen Wahlkampagnen oder mit einer stärkeren Führung lösen. Das ist zu sehr Polit-Marketing und verkennt die substanziellen Probleme der SPD.
Was sind denn die eigentlichen Probleme der SPD?
Ich sehe zwei Konflikte. Im ersten geht es um Verteilung, das ist der klassische Links-rechts-Konflikt. Er wird von einer kulturellen Konfliktlinie durchschnitten. Dabei geht es um die Frage liberaler versus traditioneller Werte, aber vor allem um die Frage, wie stark die Grenzen des Nationalstaats geöffnet oder geschlossen werden sollen – für Güter, Dienstleistungen oder Kapital, insbesondere aber für Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten.
Worin besteht der kulturelle Konflikt?
Es ist ein Kampf zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen. Kosmopoliten treten gern als Grenzöffner und Vertreter universaler Menschenrechte auf. Sie sind die Globalisierungsgewinner, besser gebildet und in der Regel mit höheren Einkommen. Auf der anderen Seite stehen als tendenzielle Globalisierungsverlierer die Kommunitaristen mit vergleichsweise niedrigerer Bildung und geringerem Einkommen, die sich eher an traditionellen, lokalen und regionalen Gemeinschaften orientieren. Sie zeigen ein hohes Interesse am Schutz nationalstaatlicher Grenzen.
Wie hat die SPD diese beiden Konflikte austariert?
Leider nicht besonders gut. Im Verteilungskonflikt ist sie zu stark in die Mitte gerückt, hat nach dem Jahr 2000 politischen Raum für die Linke geöffnet. Im Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen hat sich die SPD-Spitze zu stark dem Thema Grenzöffnung verschrieben – um die gut situierten Mittelschichten in den Städten anzusprechen. Dabei hat sie ihre traditionelle Klientel und deren Interessen vergessen. Denn die Kosten der Grenzöffnung tragen nicht die urbanen, gut gebildeten Mittelschichten, sondern primär die untere Einkommensklientel. Die SPD hat sich also auf beiden Konfliktlinien falsch bewegt, ökonomisch zu weit in die Mitte, gesellschaftspolitisch zu weit in Richtung der Grünen.
Also hat Ex-Parteichef Sigmar Gabriel recht, wenn er sagt, die SPD dürfe nicht liberaler als die FDP und grüner als die Grünen sein?
Das unterschreibe ich zu 100 Prozent. Ich bedaure im Übrigen, dass so ein zoon politikon aus der Parteiführung ausgeschieden wurde. Ein robuster Außenminister täte uns in diesen Zeiten gut. Er hat übrigens schneller als alle anderen in seiner Partei gespürt, wie gefährlich die alternativlose Forderung nach offenen Grenzen für die Sozialdemokraten werden kann.
Die Wahlkampfanalyse der SPD mahnt Haltung an. Wie kann die SPD zu einer klaren Haltung kommen?
Die SPD muss sich von ihrem Anspruch verabschieden, Volkspartei zu sein.
Wie bitte?
Die Zeit der Volksparteien geht zu Ende, die der SPD als Volkspartei ist schon abgelaufen. Sie ist keine echte Volkspartei mehr, weder von ihrer Sozialstruktur her, noch indem sie bestimmte Milieus dominiert. Vom Wahlergebnis her erst recht nicht. Wenn sie daraus nicht die Konsequenzen zieht, wird sie dauerhaft weit unter 20 Prozent bleiben. Die SPD kann sich in ihrer dramatischen Lage keine programmatischen Unschärfen mehr leisten, wie sie echten Volksparteien zu eigen sind. Das gilt vor allem für die Regierungspolitik. Sie muss die Politik des Sowohl-als-auch und des Weder-noch aufgeben.
Was soll das bringen?
Nur wenn die SPD-Führung die Tatsache akzeptiert, dass sie keine 30 Prozent plus x mehr erreichen kann, ist der Weg für eine neue Strategie frei. Dann kann sie sich im Verteilungskonflikt und im Streit um die Grenzöffnung klarer positionieren und sich bei 20 Prozent plus konsolidieren.
Wie soll das klappen?
Über das sogenannte Framing: Wer Begriffe besetzt, dringt nicht nur in die Ratio, sondern auch in die emotionalen Befindlichkeiten von Wählern und Anhängern ein. Wenn eine weltoffene, kosmopolitische Partei für eine stärkere Kontrolle der Grenzen eintritt, muss sie dafür einen Ausgleich anbieten. Die SPD und ihr wenig beeindruckender Außenminister müssen dringend den Nord-Süd-Dialog neu entdecken, den einst (sic!) Willy Brandt auf den Weg gebracht hat. Sie müsste in ganz anderen Dimensionen Unterstützung für Entwicklungsländer organisieren und so nachhaltig Menschen von der Todesfahrt über das Mittelmeer abhalten. Dann hätte sie eine moralische, progressive Legitimation dafür, dass sie die Grenzen stärker schließt.
Warum soll die SPD für ein hartes Grenzregime kämpfen?
Steuert die SPD in der Grenzfrage nicht um, verliert sie weiter ihre traditionellen Schichten, die direkt auf die AfD zuschwirren. Das ist im Übrigen nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen. Die rechtspopulistischen Parteien sind die neuen Arbeiterparteien geworden, sogar in Schweden.
Wenn die SPD offiziell keine Volkspartei mehr ist – wie könnte sie dann noch Anspruch aufs Kanzleramt erheben?
Eine rot-rot-grüne Koalition wird immer schwieriger, auch weil sich die Grünen nicht mehr klar im linken Lager verorten lassen. Aber trotzdem sollte die SPD diese Möglichkeit nicht aus dem Blick lassen. Im Übrigen zeugt es von Machtvergessenheit, dass die SPD für das Kanzleramt nicht eine Rotation nach der Hälfte der Legislaturperiode eingefordert hat.
Welchen Kurs muss die SPD bei der Verteilungsfrage einschlagen, damit sie als 20-Prozent-Partei überleben kann?
Die SPD muss sich auch sozioökonomisch stärker als linke Partei profilieren, die die Globalisierung nicht passiv hinnimmt, die Ungleichheiten ausgleicht und die Märkte wieder stärker reguliert.
Sie sind Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Das Gremium bemängelt, die Partei distanziere sich nur rhetorisch, aber nicht in ihrem politischen Handeln vom Neoliberalismus. Was meinen Sie damit?
Das Problem ist nicht die Programmatik der SPD, sondern ihre Regierungspolitik. Das gilt für die Steuerpolitik, natürlich auch für die Agenda 2010. Da gab es zwar zum Teil Erfolge auf der Beschäftigungsseite, die Kosten dafür sind aber relativ hoch – prekäre Jobs, Entstehung eines Niedriglohnsektors, schnellere Entlassungen. Auf der Gegenseite hat man kein soziales Angebot gemacht, wie das die Sozialdemokraten in Dänemark etwa getan haben. Dort gibt es einen viel großzügigeren Sozialstaat als unseren, mit einer intensiven Vermittlungskultur. Dort ist die durchschnittliche Arbeitslosigkeit kurz und nie zum sozialen Lebensrisiko geworden wie bei uns.