Francos langer Schatten: Spaniens geraubte Kinder
Unter der Diktatur Francos wurden sie für tot erklärt und verschleppt. Tausende Kinder wurden ihren Müttern weggenommen, um sie bei regimetreuen Familien aufwachsen zu lassen. Erst spät kam die Lüge zutage. Jetzt suchen die Opfer nach ihren Wurzeln.
Die Bildergalerie ist lang. Und sie wird immer länger. Gesicht reiht sich an Gesicht, Frauen und Männer sind auf den Fotos zu sehen, manche eben über 30 Jahre alt, andere schon im Rentenalter. Mütter, Söhne oder Ehepaare haben ihre Porträts dieser Homepage zur Verfügung gestellt. Viele von ihnen lächeln lebensfroh in die Kamera, oder sie wollen besonders energisch wirken. Dann wieder gibt es welche, deren Züge müde und mutlos von einem gezeichneten Leben erzählen – und von einer beinahe unmöglichen Suche.
„Suche meine biologische Familie“, schreibt Christina Garcia Plaza neben ihr Bild, sie sei „geboren am 10.Dezember 1968 in der Klinik O’Donnell in Madrid“. Mehr weiß sie nicht.
„Suche meinen Sohn“, schreibt Margarita Bejarano Cadiz“. Er sei geboren am 17. April 1976 in Cadiz. Mehr weiß sie nicht.
Paxe Maxia sucht ihre Tochter, „geboren am 23. August 1982 im Hospital Sanjurjo in Valencia“, und Jose Roman Ventura, „geboren im August 1971 in Madrid“, forscht nach seiner „wirklichen Familie“.
Kinder suchen ihre Eltern, Eltern ihre Kinder. Die Anfragen kommen aus allen Teilen Spaniens, aus Valencia und La Coruna, aus Segovia und San Sebastian. Meist haben die Menschen nicht mehr als ein Geburtsdatum und den Namen einer Klinik erfahren, an die sie sich jetzt halten können. Manchmal ist es auch ein bisschen mehr an Information.
Wie bei der Geschichte des alten Mannes, der im Sterben lag. Das ist jetzt fünf Jahre her. Er wusste wohl, dass es mit ihm zu Ende gehen würde. Da beichtete er seinem Sohn, dass er nicht von ihm ist. Dass er ihm und seiner Frau von einer Nonne und einem Priester aus Saragossa übergeben worden war und dass sie ihn wie ihr eigenes Kind aufgezogen hatten. Der Sterbende berichtete, dass auch der Nachbarsjunge Antonio Barroso ein Adoptivkind und auf dieselbe mysteriöse Weise in das Viertel gelangt war.
Antonio Barroso war 38 Jahre alt, als er das erfuhr. Ein Schock, sagt der kräftige Mann, der heute kaufmännischer Angestellter ist und selbst eine 18-jährige Tochter hat. „Ich wurde für 200 000 Peseten verkauft“, fährt er fort. „Alles war falsch, was mir meine Mutter über ihre Schwangerschaft erzählt hatte. Mein ganzes Leben war plötzlich eine Lüge.“
Gemeinsam mit seinem Freund, der wie er in einer Zeit adoptiert worden war, da sich die Franco-Diktatur ihrem Ende neigte, machte sich Barroso auf die Suche nach seiner Herkunft. Bislang vergebens. Die Geburtsurkunden und der Eintrag im Familienbuch stellten sich als Fälschungen heraus. Aber die DNA-Proben waren eindeutig.
Die Freunde stießen auf Mauern des Schweigens, auf ein System der Vertuschung. Mehr als einmal schienen sie fast am Ziel zu sein. Doch als sie schließlich die Adresse eines Mönches aufgetrieben hatten, der an ihrer Adoption beteiligt gewesen sein sollte, war der wenige Tage zuvor gestorben.
Die Kirche und der Kinderhandel
„Geraubte Kinder“ werden sie in Spanien genannt. Sie wurden ihren Müttern nach der Geburt weggenommen und wuchsen bei fremden Familien als deren eigene Kinder auf. Viele von ihnen kennen ihr Schicksal nicht einmal. Und die, die es eines Tages erfuhren, sind bei ihrer Suche nach Wahrheit oft auf Namen von kirchlichen Vertretern, von Pfarrern und Nonnen gestoßen. Ein Zufall ist das nicht.
Im spanischen Bürgerkrieg und weit darüber hinaus hat die Kirche aktiv an der Seite von Generalissimus Francisco Franco gestanden – gegen die angeblichen Feinde der Republik. Auch Forscher, so ist bekannt geworden, halfen tatkräftig mit, die „Reinigung und Regeneration der spanischen Rasse“ durch Kindesentzug wissenschaftlich zu untermauern. Es waren die Frauen erschossener Republik-Anhänger, denen ihre Kinder direkt nach dem Bürgerkrieg in großer Zahl geraubt und diese dann verdienten Franquisten übergeben wurden. Auch Mütter, die als Sympathisantinnen der gestürzten Republik eingesperrt wurden, verloren ihre Kinder. Schätzungen gehen davon aus, dass es allein seit den 60er Jahren rund 300 000 Zwangsadoptionen gegeben hat. Die Praxis des Kindesraubs setzte sich offenbar noch bis in die 90er Jahre fort – als Franco längst tot und Spanien wieder ein demokratisches Land geworden war.
Erst langsam setzt die Aufarbeitung dieses finsteren Kapitels ein. Antonio Barroso gründete 2010 „Anadir“. Die Organisation, deren Präsident er heute ist, sammelt Zeugnisse von Opfern „irregulärer Adoptionen“. Und so erhält Suzy Cabrerizo jeden Tag weitere Mails, kommen jeden Tag neue Briefe. Die dunkelhaarige Mutter von zwei Kindern ist nationale Koordinatorin von „Anadir“. Mit jedem Schreiben wird die 41-jährige Frau aus Valencia an ihr eigenes Schicksal erinnert. Sie kennt das Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung, mit dem sich die Menschen an sie wenden.
Suzy Cabrerizo erfuhr mit 13 Jahren von ihrer Mutter, dass sie nicht deren eigenes Kind ist. Der Gedanke an ihre wahre Familie hat sie danach nicht mehr losgelassen. „Plötzlich änderte sich alles“, erinnert sie sich an diesen Moment. „Ich suchte nicht nur eine Mutter, ich wollte auch wissen, wer ich wirklich bin.“
In einem Alter, in dem sie mit der Kindheit abgeschlossen hatte, wurde sie wieder in sie zurückgeworfen. War wieder ganz Kind, eines, das seine leiblichen Eltern finden muss. Für Suzy Cabrerizo ein Weg voller Hindernisse und Merkwürdigkeiten. Nicht mal ihre Adoptivmutter konnte ihr helfen. Sie forschte im Krankenhaus nach, wo sie angeblich geboren worden war, sie durchsuchte Archive, Taufbücher und Adoptionsakten, wurde von Amt zu Amt geschickt, um am Ende mit leeren Händen dazustehen. Ihre Mutter fand sie nicht, auch deren Name tauchte nirgendwo in den Akten auf. Alleine kam sie gegen das Schweigen nicht an, auf das sie stieß.
Zwei Jahrzehnte lang fühlte sich Suzy Cabrerizo hilflos und allein gelassen mit dem Gedanken, dass im Land irgendwo ihre wahre Mutter lebte. Sie glaubte, nur ihr gehe es so. „Als ich von anderen Fällen erfuhr, öffnete sich der Boden unter mir“, sagt sie. „Es war ein Gefühl der Erleichterung, nicht allein zu sein mit einer solchen Geschichte, und auch des Schreckens, dass es viele solcher Fälle gibt.“
Die spanische Kirche hat sich zu ihrer beschämenden Rolle nie geäußert; ihre Archive bleiben verschlossen. Und auffällig ist nicht nur, dass bei den heute etwas über 30-jährigen Frauen und Männern, die nach ihrer Mutter suchen, immer wieder bestimmte Kliniken auftauchen, sondern auch immer wieder die gleichen Personen, die am staatlich sanktionierten Kindesraub beteiligt waren.
„Bei alleinstehenden Müttern Schwester Maria informieren!“
Schwester Maria gehörte dazu, eine als Sozialarbeiterin in einem Krankenhaus tätige Nonne. Sie ist die einzige mutmaßliche Täterin in ganz Spanien, die wegen zweier Fälle von Kindesentführung angeklagt wurde. Doch in dem in Madrid eröffneten Prozess gegen sie konnte die Wahrheit vor allem über die Hintermänner des für Kirche und leitende Ärzte jahrzehntelang lukrativen Geschäfts nicht mehr ermittelt werden. Die Nonne starb hoch betagt vor wenigen Tagen, ohne zu den Anschuldigungen Stellung zu nehmen.
Nun, so teilte die Staatsanwaltschaft mit, werden die Akten geschlossen. Für Purificacion Betegón eine niederschmetternde Auskunft. Der damals 25-jährigen Frau hatte Schwester Maria im Februar 1981 Zwillinge abgenommen, angeblich, um sie nach der Geburt zu waschen und zu untersuchen. Die ledige Mutter, die bereits einen dreijährigen Sohn hatte, sah ihre Neugeborenen nie wieder.
Später habe die Nonne ihr erklärt, beide Mädchen seien gestorben, erzählt Betegón. Als sie einen Anwalt einschaltete, fand der heraus, dass im Krankenhaus gegolten habe: „Bei alleinstehenden Müttern Schwester Maria informieren.“
Auch der alleinerziehenden Marisa Torres wurde 1979 von Schwester Maria nach der Geburt die Tochter weggenommen und für tot erklärt. Als sie sich nicht damit zufriedengeben wollte, wurde ihr gedroht, man werde auch ihr anderes Kind wegnehmen.
Zumindest bei Marisa Torres aber entwickelten sich die Dinge vielversprechend. Denn es war dann ihre verschwundene Tochter, die nicht lockerließ. Die Adoptiveltern des Mädchens Pilar unterstützten es dabei, schalteten Detektive ein, und vor einem Jahr spürten sie die als Altenpflegerin tätige Marisa Torres auf. Ein Gentest bestätigte die direkte Verwandtschaft.
Doch die Mehrzahl der Opfer, ob Mütter oder Kinder, haben nicht dieses Glück. Neben „Anadir“ kämpfen fast 20 Organisationen für die Rechte der Zwangsadoptierten, etwa 1800 Klagen sind eingereicht. Doch die meisten der früheren Täter sind inzwischen weit über 70 oder 80 Jahre alt, viele bereits gestorben. Bei den länger zurückliegenden Fällen ist Zwangsadoption als Straftat zudem verjährt.
Um Prozesse zu erzwingen, hat „Anadir“ vor ziemlich genau einem Jahr eine Sammelklage von 261 geraubten Kindern bei der Generalstaatsanwaltschaft eingereicht: Es sind dokumentierte Fälle von gefälschten Totenscheinen, leeren Kindersärgen in Gräbern oder Aussagen von damaligen Klinikmitarbeitern über die Weitergabe von Kindern gegen „mildtätige Spenden“ an die Kirche. Passiert ist seitdem wenig, obwohl der spanische Justizminister Barroso zusagte, die Recherche in Archiven und Registern zu erleichtern, damit nicht der Datenschutz die Suche behindert. Vor wenigen Tagen hat das Ministerium immerhin ein Büro eingerichtet, wo sich Betroffene melden können.
„Kein seriöses Angebot“, sagt „Anadir“-Präsident Barroso. Der Minister der regierenden Partido Popular hatte anfangs viel mehr versprochen, etwa ein lückenloses Register aller Fälle anzulegen. „Eine Lüge“, ist Barroso überzeugt. „Die haben die Akten geschlossen. Niemand ist an der Wahrheit interessiert.“
Trotzdem sieht Barroso einen Erfolg darin, dass Demonstrationen, Klagen und Aufrufe das jahrzehntelange Schweigen in Spanien beendet haben und es nun eine Debatte über das Verbrechen der geraubten Kinder gibt. „Das kann nicht wieder vergessen gemacht werden.“
Suzy Cabrerizo glaubt immer noch, dass sie ihre biologische Mutter findet. Sie fragt sich zugleich, wie sie ihren drei- und elfjährigen Kindern einmal erklären soll, was damals in Spanien möglich war.
Die Schatten der Vergangenheit sind lang, die alten Netzwerke noch mächtig, wie der Fall des Untersuchungsrichters Baltasar Garzón, der Pinochet auf die Anklagebank gebracht hatte, demonstrieren sollte. Als er sich der Sache mit den geraubten Kindern annehmen wollte, wurde er wegen angeblichen Amtsmissbrauchs verurteilt und verlor seinen Job. Viele sagen: Er wurde kaltgestellt.
Dieser Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.