Pro und Contra: Soll Xavier Naidoo Deutschland vertreten?
Ist es richtig, dass Xavier Naidoo Deutschland beim Eurovision Song Contest vertritt? Ein Pro und Contra.
Der NDR hat Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest nominiert. Das wird stark kritisiert - Naidoo war zuletzt immer wieder wegen seiner Nähe zu Verschwörungstheoretikern und sogenannten Reichsbürgern in die Schlagzeilen geraten. Jochim Huber aus der Medienredaktion findet die Entscheidung aber richtig:
Ann Sophie hatte nichts falsch gemacht, sie wurde nur Letzte beim „Eurovision Song Contest“ 2015. Die ARD aber hatte alles falsch gemacht. Sie hatte in einem Vorentscheid das Fernsehvolk darüber abstimmen lassen, wer Deutschland beim European Song Contest vertreten soll. Die Vorauswahl gewann Andreas Kümmert, eine Bärenstimme mit null Ausstrahlung, null Bühnenpräsenz, null Fernsehtauglichkeit. Erst hatte die ARD das Pech, dass Kümmert gewann, und dann kam das Unglück hinzu, dass Kümmert zurückzog. Ann Sophie badete aus, was der verantwortliche NDR verbockt hatte. Der European Song Contest ist eine Leistungsschau und keine Dorfdisko.
Jetzt geht der Sender ins nächste, ungleich höhere Risiko. Die Fernsehdemokratie ist abgesagt, das Volk darf nur mitbestimmen, welchen Song der im Hinterzimmer ausgewählte Vertreter in Stockholm zum Vortrage bringen soll. Der Vertreter heißt Xavier Naidoo. Ein Künstler. Eine Soulstimme. Ein Performer. Und einer, der tut, was andere Künstler seiner Güteklasse tunlichst vermeiden – beim ESC abgestraft zu werden. Naidoo zeigt Mut, wo andere nur Kalkül zeigen.
Deutsches Reich: Douze Points? Xavier Naidoo hat es an fragwürdiger Tonlage – homophob, reichsdeutschländisch, rassistisch – nicht mangeln lassen. Jetzt, nach der ARD-Kür, singt er das Gegenteil, das Hohelied vom „bunten Deutschland“. Ist der 44-Jährige nur ein Wendehals, der seine wahren Einstellungen camoufliert? Großartiger Künstler und mieser Mensch?
So dichotomisch einfach funktioniert das nicht. Die Wahl durch die öffentlich-rechtliche, gebührenfinanzierte ARD, die Wahl zum deutschen Vertreter im supranationalen Wettbewerb, der vehemente Protest nicht nur der schwul-lesbischen Community zwingen Naidoo vor die Wahl: Reichsjesus oder reflektierter Künstler? Es gehört sich, dem neuen, meinetwegen gewendeten Naidoo die Chance zur Entscheidung zu geben. Jeder Kritiker würde diese Chance für sich selbst reklamieren. Und jeder Kritiker sollte anerkennen, dass nicht die schlechtesten Künstler Menschen im Widerspruch mit sich sind. Naidoo ist nicht clean, jedenfalls nicht so clean wie die Klone des Gutmenschentotalitarismus. Die fortgesetzte Helene-Fischerisierung des deutschen Beitrags zum European Song Contest kann nur zu weiterer Peinlichkeit führen. Geschmack ist eben nicht demokratisch, Können schon gar nicht.
Die ARD handelt souverän
Die ARD hätte sich all den Ärger mit Naidoo ersparen können. Clubkonzert, Vorentscheid, gegen all das hat sich der Senderverbund entschieden. Die ARD nimmt wieder das Heft in die Hand. Sie macht, was sie auch sonst im Programm macht: Sie entscheidet über die Inhalte und die Protagonisten, die sie dem Publikum anbietet. Die ARD handelt souverän. Noch souveräner ihre Entscheidung für Xavier Naidoo, ein Votum, in das Vertrauensvorschuss, Qualitätsbewusstsein und Risikobereitschaft inkludiert sind.
Xavier Naidoo ist die richtige Wahl. Er repräsentiert nicht das Maß der Mitte, jenes Mittelmaß, das kein Maßstab für den „Eurovision Song Contest“ sein darf.
Warum Xavier Naidoo nicht die richtige Wahl ist
Fabian Leber aus der Meinungsredaktion findet es einen Fehler, dass Naidoo Deutschland vertreten soll:
Fast könnte man meinen, der Norddeutsche Rundfunk (NDR) habe im Jahr 2015 ein besonderes Zeichen setzen wollen. Ein Zeichen an die, die in Dresden und anderswo laut „Lügenpresse“ rufen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seinen „Zwangsgebühren“ dabei besonders im Auge haben. Ein Zeichen, indem der NDR Xavier Naidoo als deutschen Vertreter zum „Eurovision Song Contest“ (ESC) schickt, einen Künstler, der im Kreise von Verschwörungstheoretikern und Amerikahassern Wertschätzung genießt.
Aber halt: Der ESC ist ja nur eine „große, weltweite Fernsehshow“, wie NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber sagt. Mag heißen: Das bisschen Spaß muss sein. Schließlich, so der TV-Manager, frage bei Privatfernsehshows wie „Voice of Germany“ auch niemand nach der politischen Haltung der Teilnehmer.
Es ist erstaunlich, wie klein der NDR damit eine Show redet, die er selbst über viele Jahre zu pushen versucht hat, mit nicht wenig Gebührengeld. Man mag den ESC für verkitscht halten, für schwulen Weihnachtsersatz, für einen Satirewettbewerb, der nur davon lebt, dass er in Moldawien oder Montenegro noch ernst genommen wird. Tatsächlich aber ist er die einzige europäische Kulturveranstaltung, die über viele Grenzen hinweg funktioniert. Ja, der einzige Event, der in Europa jenseits des Fußballs Abermillionen von Menschen gleichzeitig vor die Fernseher bringt. Und vom Fußball behauptet ja auch niemand, er sei unpolitisch.
Gerade deshalb war der Sieg von Conchita Wurst vor zwei Jahren so bemerkenswert. Man musste sie und ihre Musik nicht mögen, aber in Zeiten, in denen westeuropäische Rechtspopulisten mit Putin-Fans zusammenspannen, war ihr Sieg eben doch ein Statement. Die ablehnenden Reaktionen gerade aus Russland unterstrichen dies nur.
Naidoo: Entscheidungen kommen „außerhalb von nationalen Gremien“ zustande
Um eine Art Auftrittsverbot für Naidoo geht es dabei nicht. Sondern schlichtweg um das Signal, das der NDR mit dieser Nominierung ausstrahlt – ausgerechnet im Jahr 2015, in dem ressentimentgeladene Bewegungen Oberwasser haben. Naidoo soll ja in Stockholm nicht einfach als Künstler auftreten, sondern er wird für Deutschland ins Rennen geschickt, soll dieses Land also repräsentieren. Auch das kann man anachronistisch finden. Wenn man Naidoos Auftritt aber als rein ästhetische Nummer auffasst, dann kann man den ESC gleich ganz abschaffen.
Es mag sein, dass Xavier Naidoo inzwischen geläutert ist. Der NDR jedenfalls stellt ihm einen entsprechenden Persilschein aus. Nur: Warum hat man bis dahin so wenig davon mitbekommen? Wieso trat er dann noch im vergangenen Jahr bei „Mahnwachen“ oder „Reichsbürgern“ auf? Warum führt der Sender gegen die Homophobie-Vorwürfe Naidoos dunkle Hautfarbe an, so als könnten nur Weiße schwulenfeindlich sein? Und selbst in einem vom NDR aktuell verbreiteten Video beklagt Naidoo sich darüber, dass viele Entscheidungen „außerhalb von nationalen Gremien“ zustande kämen und das nicht seinem Verständnis von Freiheit entspreche. Vielleicht sollte der NDR ihm noch einmal erklären, wer eigentlich beim Song Contest entscheidet.