Thierse und der Streit über Identitätspolitik: So schafft die Sozialdemokratie sich selbst ab
Kein Kontakt zur Lebensrealität, fehlende Vordenker, falsche Debatten, die nicht versöhnen, sondern spalten – es steht nicht gut um die SPD. Ein Kommentar.
Ist die SPD noch zu retten? Der neueste Konflikt ist angefacht durch die Kontroverse zwischen den Parteigranden Wolfgang Thierse und Gesine Schwan auf der einen Seite und der Vorsitzenden Saskia Esken und ihrem Vize Kevin Kühnert auf der anderen. Er hat das Zeug, die Partei wenn nicht zu zerlegen, so doch aber weiter zu schwächen, möglicherweise entscheidend.
Das lässt sich ablesen an der Reaktion von Thierse darauf, dass sich Esken und Kühnert von ihm und Schwan distanzieren, sogar für die beiden „schämen“: Thierse bietet ihnen gewissermaßen seinen Parteiaustritt an, wenn sie sein Verbleiben für eher schädlich als wünschenswert halten. So weit ist es gekommen.
Es geht um Kritik von „queer.de“ an Thierses Essay jüngst in der FAZ, in dem er schreibt: „Weil der gesellschaftliche Zusammenhalt in einer diversen, sozial und kulturell fragmentierten „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) nicht mehr selbstverständlich ist, muss er ausdrücklich das Ziel von demokratischer Politik und von kulturellen Anstrengungen sein, eben vor allem auch der Sozialdemokratie. Es muss ihr kulturelles Angebot sein, dass Solidarität, um die geht es nämlich, kein einseitiges Verhältnis ist, kein Anspruchsverhältnis gegen die Anderen, sondern auf Wechselseitigkeit und das Ganze umfassend zielt.“
Thierse meinte, das sei gut sozialdemokratisch, wurde darin verteidigt von Schwan in der „Süddeutschen“, sieht sich aber nicht nur heftigen Angriffen von „queer.de“ ausgesetzt, sondern überdies von der SPD-Führung verurteilt.
Die Auseinandersetzung um das „gut Sozialdemokratische“ hat gerade erst begonnen. Dabei geht es auch um den Umgang mit Menschen, die anderen Lebensentwürfen folgen, aus den unterschiedlichsten Gründen. Wie steht es da um die SPD heute?
So hätte Willy Brandt keine Chance gehabt
Früher konnte sie, aufgrund intellektueller Leistung und Prägung, Verschiedenheit nicht nur aushalten, sondern sie mit diesem Dreiklang bedenken: respektieren, akzeptieren, integrieren. Heute steht ihr diese Fähigkeit nicht mehr zu Gebote.
Inzwischen ist eine schnell gefasste Meinung, vertreten in fester Haltung, wichtiger und angesehener als Disputation im Willen, daraus für die eigene Haltung erst danach Schlüsse zu ziehen und zu lernen. Es wird weniger, wenn überhaupt, diskutiert, sondern viel eher dekretiert. Wer dem nicht folgt, wird - siehe der jüngste Fall - ausgegrenzt. So gesehen hätte Willy Brandt als Suchender und Meister des Ungefähren in dieser Zeit der (Selbst-)Gewissheiten keine Chance.
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Soll keiner sagen, das sehe und spüre die Intelligenzija nicht. Der Anspruch mutet totalitär genug an: Nur wer das Richtige denkt, sei es auch bloß vermeintlich und vor allem von einer imaginären Mehrheit geteilt, darf reden. Sonst muss er, muss sie schweigen - getreu der Lehre vom besseren Menschen. Wenn das mal nicht falsch verstandener Sozialismus ist, geradezu antiintellektuell.
Dabei bleibt es aber nicht. Weil ein Vordenker vom Schlage eines Peter Glotz fehlt, gelingt auch der gesellschaftliche Brückenschlag nicht mehr, die eigentliche intellektuelle Leistung der Sozialdemokratie in vergangenen Jahrzehnten. Das erinnert an die Philippika ihres einstigen Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel. Der hatte in der SPD-Bundestagsfraktion zuletzt davor gewarnt, dem „verhängnisvollen linken Drang zum Jakobinertum“ nachzugeben und nur noch danach zu fragen, ob jemand die „richtige Haltung“ habe.
Millionen sind abgewandert, weil das Gefühl grassiert, die SPD-Führung schaue auf sie herab
Genau das spüren aber die einstigen Wählerinnen und Wähler. Millionen sind abgewandert, weil das Gefühl grassiert, die Führung schaue auf sie herab. Schon die Wahlanlayse von Infratest Dimap nach der Bundestagswahl 2013 enthielt einen für die Sozialdemokratie bitteren Befund: Ihre früheren Wählerinnen und Wähler hätten den Eindruck, die SPD verachte sie.
Ähnlich reagierten übrigens Millionen traditionell demokratischer Wählerinnen und Wähler seinerzeit in den USA auf Hillary Clintons Bemerkung über die sogenannten „deplorables“ - und wählten Donald Trump.
Der in der SPD inzwischen zur Unperson erklärte Gabriel hatte weiß Gott nicht in allem Recht, aber offenbar durchaus funktionierende sozialdemokratische Instinkte: Immer nur Menschen zu signalisieren, sie hätten die "falsche Haltung", wenn sie unangenehme Fragen stellen, oder ihnen gebetsmühlenhaft den "Aufstieg durch Bildung" zu empfehlen, habe die SPD kulturell von den sogenannten "kleinen Leuten" entfernt. „Denn nicht wenige wissen, dass sie diesen Aufstieg nicht schaffen und wünschen sich trotzdem - und das mit Recht - Respekt gegenüber ihrer Arbeitsleistung und die Chance auf ein gutes Leben.“ Gabriel sprach 2018 aus, woran die SPD heute so sehr krankt.
Außerdem - und das ist eine faszinierende Binnenspannung in der Selbstwahrnehmung: Die Lebensrealität von Verkäufer:innen, Handwerkern, Facharbeitern, „kleinen“ Angestellten und Beamten, Pflegekräften, Polizisten und etlichen mehr ist der Parteispitze fremd.
Die allermeisten dort denken, fühlen, schreiben, sprechen, ja essen und leben völlig anders als die in Habitus und Gestus akademisierten Vertreter:innen da oben, hoch über ihnen. Sie wollen sich dafür nicht schlecht fühlen. Aber weil sie sich fremd fühlen, bleibt dieser große Teil der früheren Wählerschaft weg.
Noch einmal ein Auszug aus der 2018 gehaltenen Rede des früheren SPD-Chefs: „Was wäre wohl, wenn in einer Versammlung jemand aufstünde und sagte: "Ich sehe gerne RTL-Soaps im Fernsehen, ich rauche und esse gern Fleisch und fliege in den All-inclusive-Urlaub nach Malle - und ja: in meinem Spind hängt noch ein Playboy-Foto." Das alles muss man nicht selbst mögen oder gar angemessen finden, aber solche Menschen gibt es zuhauf und früher war die SPD eine politische Heimat für sie. Aber das ist lange vorbei.“ Beifall gab es vermutlich keinen für diese Provokation.
Wer außerhalb der Partei braucht die SPD noch?
Die Gefahr wächst, dass anhand solcher Kontroversen wie mit Thierse das alles überdeutlich wird. Und dass stattdessen der Eindruck grassiert, dass die SPD kein Hort der Diskussion und anschließender Versöhnung der gesellschaftlichen Gruppen (auch mit sich selbst) ist, sondern bloß noch Vehikel: nicht für Substanz, sondern für Ämterehrgeiz. Wer außerhalb der Partei braucht sie dann noch?
Drum rette dich, SPD! Schnell! Sonst sind, frei nach Willy Brandt, 16 Prozent bei der nächsten Wahl auch schon ein schönes Ergebnis.
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