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Im „Wohnzimmer“ des digitalen Parteitags: Die beiden Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock
© Kay Nietfeld/dpa

„Könnt ihr mich hören?“: So lief der erste digitale Parteitag der Grünen

Als erste Partei in Deutschland haben die Grünen die Veranstaltung komplett digital abgehalten. Trotz hoher Beteiligung im Netz blieb manches auf der Strecke.

Grauer Himmel, nasskaltes Wetter. Der Platz vor dem Berliner Tempodrom ist menschenleer. Davon, dass hier heute etwas Großes passieren soll, zeugen am Sonnabendmittag einzig die Übertragungswagen etlicher Fernsehsender und einige Transparente der Grünen.

Mit dem rauschenden Fest, das die Grünen anlässlich ihres 40-jährigen Jubiläums feiern wollten, hat ihr diesjähriger Parteitag nichts mehr gemein. Dafür können sie sich mal wieder als Pioniere gerieren: Als erste politische Partei in Deutschland verlegen die Bündnisgrünen ihren mehrtägigen Bundesparteitag ins Netz.

Seit September war klar, dass der ursprünglich geplante analoge Parteitag wegen der Corona-Pandemie nicht würde stattfinden können. Wegen des sich zuspitzenden Infektionsgeschehens mussten die Grünen sich Anfang des Monates auch von der Idee verabschieden, den digitalen Parteitag aus ihrer Wiegestadt Karlsruhe begehen zu können.

Zu viele Mitglieder hätten dafür aus Berlin einmal quer durch die Republik fahren müssen, darauf sollte während des Lockdowns verzichtet werden.

Seit Freitagnachmittag sind nun mehr als 800 Delegierte eingeladen, digital miteinander zu diskutieren, am Sonntag wird das Grundsatzprogramm der Partei verabschiedet, das Wertefundament für das nächste Jahrzehnt.

Grünen-Chef Robert Habeck beim digitalen Parteitag in der "Sendezentrale" im Berliner Tempodrom
Grünen-Chef Robert Habeck beim digitalen Parteitag in der "Sendezentrale" im Berliner Tempodrom
© Kay Nietfeld/dpa

Das mag fortschrittlich klingen, wirkt vor Ort jedoch erstmal trostlos. Statt der rund 1400 Menschen, die hier unter normalen Umständen zusammengekommen wären, sind nur etwa 100 Menschen im Tempodrom, die Ränge leer. Opulentes Catering ist einem unscheinbaren Stand mit belegten Brötchen gewichen, Gespräche am Rande mit alten und neuen Bekannten, das Netzwerken, die Wiedersehensfreude, die aufgeregte gute Laune, all das fehlt.

Das Team wurde auf ein Minimum aus Präsidium und Mitarbeitern reduziert, ansonsten wird nur Technik und Presse der Zutritt gewährt. Die meisten Pressevertreter, denen es möglich ist, verfolgen den Parteitag, wie von den Gastgebern empfohlen, von Zuhause. So lassen sich die Printjournalisten, die auf den Rängen sitzen, an einer Hand abzählen. Wer sich entschieden hat, der Veranstaltung dennoch live beizuwohnen, den führt der erste Weg ins Testzentrum.

In sechs Zelten stehen zur Rushhour, vor allem morgens, wenn die Technik sich ans Werk macht und die Proben beginnen, zehn bis zwölf medizinische Mitarbeiter in Schutzanzügen und mit Mund-Nase-Schutz bereit.

Corona-Testzentrum vor dem Berliner Tempodrom
Corona-Testzentrum vor dem Berliner Tempodrom
© Lea Schulze/Tagesspiegel:

Jeder, der sich auf der Ebene der Bühne aufhält, das Parteiteam, die Technik und die Fernsehjournalisten, muss sich einem Antigentest unterziehen. „Wer hier ankommt, muss als erstes Unterlagen ausfüllen, die gleichzeitig der Befundbogen sind, und erhält eine Nummer. Wir nehmen einen Abstrich aus Mund oder Nase. Mund ist angenehmer, Nase einfacher. Etwa fünfzehn Minuten später ist das Ergebnis da“, sagt Medizinstudent Semih Altun, der sich bereits seit einigen Monaten mit der Betreuung von Corona-Tests etwas dazu verdient. „Der Antigentest zeigt akute Infektionen schnell und effizient, ist aber noch nicht vom Gesundheitsamt anerkannt.“

Alle Parteimitglieder haben im Vorfeld auch einen PCR-Test gemacht, müssen aber trotzdem jeden Morgen erneut getestet werden. Im gesamten Gebäude sowie im Testzentrum herrscht Maskenpflicht, berichtet Zippora Lojenburg. Sie ist Trainee der organisatorischen Geschäftsführung der Grünen und wurde für dieses Wochenende kurzerhand zur Hygienebeauftragten und Leiterin des Testzentrums ernannt.

Die Stimmung war anfangs bedrückt

Am Anfang des Parteitags sei die Stimmung bedrückt gewesen, erzählt die junge Frau. „Wir können nicht trinken, nicht tanzen, nicht feiern, natürlich war das erstmal frustrierend. Aber jetzt, wo wir wissen, dass alles klappt, herrscht große Erleichterung: Wir sind die ersten, die es geschafft haben, so etwas zu stemmen, das ist doch eigentlich schon wieder ein Grund zu feiern.“

Das Testzentrum war auch der Grund dafür, dass es am Freitagabend nicht möglich war, den Start des Parteitags am Samstag nach alter Sponti-Manier um zwei Stunden vorzuverlegen, und so den Verzug wieder reinzuholen, der durch die digitalen Abstimmungen entstanden war.

„Wir hätten Euch das gerne entscheiden lassen,“ musste Präsidiumsmitglied Jürgen Suhr das Angebot zur Teilhabe an der Samstagsplanung zurückziehen, „aber durch die Schnelltestsituation und das viele Personal, dass da dranhängt, sind wir einfach nicht spontan.“

Sicherheitsvorkehrungen im Tempdrom
Sicherheitsvorkehrungen im Tempdrom
© Lea Schulze/Tagesspiegel

Zwei Stunden hingen die Grünen am Freitagabend ihrem Programmplan hinterher, nicht anders stellte sich die Situation am Sonnabend dar. Die Delegierten zu Hause an den Bildschirmen erhielten virtuelle Stimmkarten. Deren Abgabe und Auswertung dauerte deutlich länger, als wenn sie vor Ort einfach ihre Stimmkarte in die Luft hätten halten können – womit die Organisatoren nicht gerechnet hatten.

Vielleicht auch, weil der Parteitag zuhause eben auch dazu einlädt, zwischendurch eine zu rauchen, in den Kühlschrank zu schauen, die Kinder zu Bett zu bringen oder mit dem Hund raus zu gehen – wie Mitglieder des Präsidiums während der teilweise langen Wartezeiten immer wieder witzelten.

Ihnen kam die Zeit lang vor, während es von den Delegierten im Chat immer wieder Beschwerden gab, dass Abstimmungen zu schnell geschlossen würden.

„Ein Parteitag ohne eine volle Halle ist nicht dasselbe, man weiß nie, ob es den einen zu langsam oder den anderen zu schnell geht“, sagt Aminata Touré, Mitglied des Präsidiums, dazu. Wartezeiten wurden durch Moderationen von Ninja Binias und Marco Ammer aus einem den 80-er Jahren nachempfundenen Wohnzimmer-Studio und Einspielvideos aufgefangen.

„Könnt ihr mich hören?“

In der Debatte werden vorbereitete Gastvideos eingespielt und es kommen die Delegierten zu Wort, die per Video aus ihren Wohn- und Arbeitszimmern zugeschaltet werden – von der holzvertäfelten Stube über die chaotische Wohngemeinschaft bis zum schicken Loft. Immer mal wieder heißt es: „Könnt ihr mich hören?“

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Dass ein digitaler Parteitag nicht für alle Delegierten ein Selbstläufer ist, erforderte im Vorfeld eine umfangreiche Planung: Wer sich unsicher fühlt, dem wird ein Technik-Support zur Seite gestellt. Bei jedem Redner wird vor seinem Auftritt ein Ton- und Soundcheck im digitalen Backstage-Bereich durchgeführt. Die Landesverbände haben zudem vorab digitale Delegiertentreffen angeboten, auch um die technischen Voraussetzungen zu klären.

Ein digitaler Parteitag sei in Vorbereitung und Durchführung noch aufwändiger als ein analoger heißt es seitens der Partei. Auch billiger ist ein solcher digitaler Parteitag  nicht.

Normalerweise koste ein Grünen-Parteitag etwa eine halbe Millionen Euro bis 600.000 Euro, sagt Bundesgeschäftsführer Kellner. Zwar sparen die Kreisverbände die Fahrt- und Übernachtungskosten für ihre Delegierten, doch die Grundkosten fallen höher aus, vor allem wegen der aufwändigen Technik.

Auf insgesamt vier Bühnen ist das Vor-Ort-Programm im Tempodrom verteilt, allein die Programmierung des Abstimmungstools habe rund drei Monate gedauert. Außerdem arbeiten die Grünen erstmals mit einer professionellen Regie und produzierten vorab viele Videos mit Gastreden und Redebeiträgen sowie Themenvideos mit einer Video-Produktionsfirma.

Das digitale Format ändert den Sound des Parteitags

Das digitale Format ändert auch den Sound des Parteitags. Vor einem großen Publikum würden viele Redner mehr Leidenschaft in ihre Stimme legen, wenn ihnen der Applaus ihrer Parteifreunde sicher wäre. Stattdessen können die Delegierten nur per Klick applaudieren, auf dem Bildschirm erscheinen dann Sonnenblumen und Herzen.

Den ersten echten Parteitagsmoment gab es schließlich am Sonntagvormittag, als Jürgen Trittin bei seiner engagierten Rede gegen den Volksentscheid den Ton am Computer nicht ausgestellt bekommt und mit einem "Och, Mann!" wütend auf die Tastatur haut. „Du musst so ruhig bleiben, wie das Präsidium“, rät ihm daraufhin Präsidiumsmitglied Jürgen Suhr.

Die Ränge im Berliner Tempodrom sind weitgehend leer
Die Ränge im Berliner Tempodrom sind weitgehend leer
© Lea Schulze/Tagesspiegel

Die Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock lassen sich bei ihren Reden auf der Bühne im Tempodrom vom ausbleibenden Applaus nicht beirren, sprechen in die Kamera wie sonst der Bundespräsident oder die Kanzlerin.

Sie gestalten ihre Auftritte wie Fernseh-Happenings, aus gutem Grund: Allein am Freitagabend waren bis zu 45.000 Zuschauerinnen verteilt auf den Kanälen der Grünen unterwegs. Beim letzten analogen Parteitag 2019 in Bielefeld folgten nur ein paar tausend Menschen dem Livestream.

Auch die rege Beteiligung der Mitglieder gibt dem digitalen Parteitag recht: Noch am späten Abend stimmen mehr als 700 Delegierte ab, ein Ergebnis, dass sich sehen lassen kann, wie das Präsidium versichert. Die Hoffnung der Grünen auf konzentriertere Debatten durch weniger Ablenkung, sie scheint sich erfüllt zu haben.

Bundesgeschäftsführer Michael Kellner jedenfalls ist zufrieden. Er sei „begeistert“, dass auch im digitalen Raum ein so reger Austausch möglich sei, sagt er. Natürlich fehlten der Applaus nach den Reden und Anträgen, die Stimmung in der Halle und der gemeinsame Kaffee in den Pausen. „Aber das Wichtigste bleibt: Menschen, die sich einbringen und gemeinsam gestalten wollen.“

Er würde sich freuen, wenn der nächste Parteitag wieder analog stattfindet. „Ein digitaler Parteitag ist eine Notmaßnahme in Zeiten der Pandemie.“

Das Zwischenfazit von Aminata Touré fällt ähnlich aus: Es sei toll, wieviele Delegierte bislang an beiden Tagen abgestimmt hätten, das Gewusel und der Austausch fehlten ihr trotzdem. „Das ist schon etwas ganz besonderes, wenn wir alle zusammenkommen.“

Auch wenn das Experiment weitgehend reibungslos funktioniert hat, dürfte eines doch viele in der Partei einen: die Hoffnung und Vorfreude auf einen altmodischen, analogen Parteitag im Sommer 2021.

Lea Schulze

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