Streit um Verfassungsschutzchef Maaßen: „Sind in Berlin alle verrückt geworden?“
Der Streit um den Geheimdienstchef schadet den Koalitionsparteien. SPD-Chefin Andrea Nahles will ihn daher jetzt neu verhandeln.
Der Niedersachse Stephan Weil gilt als nüchterner Pragmatiker, der eher unter- als übertreibt. „Aus dieser Woche gehen die Demokraten als Verlierer heraus“, sagte der SPD-Ministerpräsident am Freitag. Da kannte er wohl schon die Meinungsumfrage, wonach mitten in der Koalitionskrise um Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen sowohl seine Partei als auch die Union weiter absacken. Dagegen zieht die AfD im ARD-Deutschlandtrend mit 18 Prozent erstmals an der SPD vorbei auf Platz Zwei. Man könnte es auch härter formulieren als Weil: Der Streit um die Beförderung eines Behördenchefs ist ein Förderprogramm für Rechtspopulisten. „Das ist ein Weckruf“, erklärte Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) und mahnte die Rückkehr zur Sacharbeit an. Die Debatte habe „nicht dazu beigetragen, dass die Bevölkerung mit Vertrauen nach Berlin schaut“.
Der Vertrauensverlust trifft alle drei Regierungsparteien, doch am schwersten tun sich die Sozialdemokraten mit der Entscheidung, für die sich ihre Parteichefin Andrea Nahles in die Pflicht nehmen ließ. Am Freitagnachmittag gab die Vorsitzende dem Druck nach und bat in einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) um neue Verhandlungen. Alle drei hatten am Dienstag entschieden, den umstrittenen Geheimdienstchef abzulösen. Hans-Georg Maaßen darf nicht mehr den Verfassungsschutz leiten, wird aber zum Staatssekretär im Innenministerium befördert.
Bayerns SPD-Chefin Natascha Kohnen, deren Partei im Landtagswahlkampf mit Umfragewerten zwischen elf und dreizehn Prozent ringt, hatte zuvor nachgelegt. „Wenn die Personalie Maaßen nicht durch eine Ablehnung im Kabinett aufgehalten werden kann, dann muss die Entscheidung eben korrigiert werden“, schrieb sie bei Twitter. Auch SPD-Vize Ralf Stegner forderte: „Falsche Entscheidungen dürfen nicht vollzogen, sondern müssen korrigiert werden.“
An der Basis der SPD brodelt es, berichten Abgeordnete, die Stimmung sei „sehr angespannt“, die Empörung noch größer als Anfang des Jahres, als der scheidende Parteichef Martin Schulz für sich vergeblich das Amt des Außenministers reklamierte.
Zwar warben mit Weil und dem Brandenburger Dietmar Woidke mehrere SPD-Ministerpräsidenten für die Rückkehr zur Sachpolitik und die Fortsetzung der großen Koalition. Doch anders als Nahles suggeriert, fordern nicht nur Gegner der großen Koalition in der SPD eine Revision der Entscheidung.
Auch Niedersachsens Innenminister Pistorius stellt sich gegen den Beschluss der Parteichefin
Auch ausgewiesene Pragmatiker wie etwa Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius stellen sich gegen den Beschluss der Parteichefin. „Die SPD-Spitze sollte diese Personalie verhindern“, forderte er im „Spiegel“. Zugleich versicherte der SPD-Politiker, er habe „volles Vertrauen in Andrea Nahles, da die richtigen Wege zu gehen“.
Auch Sozialdemokraten, die dem pragmatischen „Netzwerk“ angehören, sind empört. Dass Maaßen „nach oben fällt, ist eine absolute Frechheit“, sagt der Bundestagsabgeordnete Falko Mohrs, es sei ein „fatales politisches Signal“. Für den Niedersachsen geht es nicht nur um die Personalie Verfassungsschutzchef. „Der Vater aller Probleme heißt Horst Seehofer, er sabotiert seit Monaten die gute Arbeit dieser Regierung“, warnt er. Die Bundeskanzlerin müsse überlegen, ob der Innenminister seiner Aufgabe noch gewachsen sei.
Trotz Nahles neuer Wendung stehen dem SPD-Präsidium und dem Parteivorstand am Montag spannende Sitzungen bevor. Dann dürfte es um die Forderung etwa von Juso-Chef Kevin Kühnert gehen, aus der Koalition auszusteigen, wenn die Beförderung von Maaßen anders nicht zu verhindern sei. Auch die Bundestagsfraktion trifft sich am Montag zu einer Sondersitzung.
Erstmals übte auch ein Spitzenpolitiker der Union offen Kritik. „Für mich ist die Entscheidung der Parteivorsitzenden nicht zu verstehen und den Bürgern nicht zu vermitteln“, sagte Fraktionsvize Carsten Linnemann (CDU) dem „Spiegel“. Die Entscheidung „liegt fernab der Realität“. Er habe eine Flut empörter Nachrichten erhalten, sagte der Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung der Union. „Die Bürger fragen zu Recht, ob wir in Berlin alle verrückt geworden sind.“ Beim Thema Maaßen gehe es um die Glaubwürdigkeit und die Zukunft der deutschen Volksparteien. (mit dpa)