Kampf gegen Corona-Mutanten: Sind Einreiseverbote und Grenzschließungen jetzt sinnvoll?
Die Bundesregierung plant offenbar Einreiseverbote und auch Grenzschließungen sind im Gespräch. Andere Länder handeln im Kampf gegen Corona-Mutanten schneller.
Die Bundesregierung plant nach „Spiegel“-Angaben ein Einreiseverbot aus Ländern mit hoher Verbreitung von Corona-Mutanten. Eine Vorlage für eine entsprechende Verordnung befinde sich derzeit in der Abstimmung zwischen den Ressorts, berichtete der „Spiegel“ am Mittwochabend auf seiner Online-Plattform. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums bestätigte der Deutschen Presse-Agentur, dass ein entsprechender Beschluss derzeit abgestimmt wird.
Großbritannien hatte bereits am Mittwoch weitere Reisebeschränkungen eingeführt, doch der Bundesregierung war das Thema offenbar noch zu heiß. Bei der Kabinettssitzung wurden Reisebeschränkungen beraten, aber noch nichts beschlossen. Man wolle, sagt Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer, erst die weitere Abstimmung in Europa abwarten.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat derweilen schon eine ganze Liste von Maßnahmen fertig, darunter „drastische“, wie er selbst sagt, neben Reiseverboten auch Grenzschließungen.
Seehofers Katalog geht auf den jüngsten Beschluss des EU-Gipfels zurück. Dort sahen sich die Staats- und Regierungschefs mit der neuen Bedrohung durch Corona-Mutationen konfrontiert. Die verbreiten sich schneller, manche scheinen auch gefährlicher als die Urformen. Für die dramatischen Ausbrüche in Irland, Großbritannien und Portugal sind sie offenbar zumindest mitverantwortlich.
Der Videogipfel beschloss, das Virus am Reisen zu hindern. Alle „nicht notwendigen“ Reisen in und außerhalb Europas sollten unterbleiben. Grenzen schließen wollte die Runde aber ausdrücklich nicht. Die schlechte Erfahrung aus dem Frühlingslockdown schreckte viele ab: Lkw-Staus, stockende Lieferketten, auseinandergerissene Familien, Probleme für Grenzpendler.
Dazu kommt die Schwierigkeit, sachlich und juristisch plausible Abgrenzungen für ein Reiseverbot zu finden. Riegelt man sich nur gegen Länder wie Großbritannien, Südafrika und Brasilien ab, aus denen die bedrohlicheren Mutationen stammen? Oder soll ein Urlaubsstopp für alle Hochinzidenz-Staaten gelten, die das Robert-Koch-Institut auflistet?
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Der Osterurlaub verursacht manchem in der Regierung heute schon Kopfzerbrechen, weil Kurztrips über die Feiertage schon im vergangenen Jahr die Infektionszahlen steigen ließen. Theoretisch gelten bereits strikte Regularien für Reisende, vor allem im Flugverkehr.
Doch in der Praxis werden Test- und Quarantäneregeln offenbar großzügig ausgelegt; Seehofer warf Airlines vor kurzem vor, dass sie ihre Testpflicht nicht genau nähmen. Die Überwachung von Quarantänepflichten scheitert oft an der Überlastung der Gesundheitsämter. Deutlich mehr Kontrollen an den Grenzen – ob am Flughafen oder am früheren Schlagbaum – gehören deshalb zu den diskutierten Maßnahmen.
Belgien hat aus alledem mit einem drastischen Schritt die Konsequenzen gezogen. Ab Mittwoch sind alle nicht notwendigen Reisen ins Land hinein und aus ihm heraus verboten. Das gilt zunächst bis 1. März unabhängig vom Verkehrsmittel. Man werde auf Häfen, Flughäfen, an Straßen- und Bahnverbindungen gleichermaßen kontrollieren. Studium, Beruf oder Beerdigung gelten als triftige Gründe.
Belgien ist viel kleiner als Deutschland. Aber als europäisches Transitland mit Land- und Seegrenzen in alle Himmelsrichtungen sind beide durchaus vergleichbar.
Wie viele reisen noch?
Über Weihnachten seien jeden Tag 50.000 Menschen auf die Kanaren oder Malediven geflogen, zürnte Kanzlerin Angela Merkel am Wochenende in einer Schalte. Dass die Kanarischen Inseln als Zufluchtsort über die Feiertage beliebt waren, verwundert kaum: Sie wurden erst am 20. Dezember als Risikogebiet eingestuft. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele Urlauber ihre Reise schon gebucht oder waren bereits unterwegs.
Fest steht aber auch, dass die Zahl der Flüge drastisch zurückgegangen ist. Die Lufthansa transportierte im Dezember 90 Prozent weniger Passagiere als zur gleichen Zeit im Vorjahr. In Berlin bietet die Airline momentan im Schnitt etwa 30 Flugverbindungen täglich an, das sind 80 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.
Bei Easyjet sagte eine Sprecherin, man überprüfe fortlaufend den Flugplan, um ihn mit den Reisebeschränkungen und der Nachfrage in Einklang zu bringen: „Wir haben deshalb unser europäisches Programm sehr stark zurückgefahren .“
„Wir haben im Frühjahr gesehen, dass das Infektionsgeschehen vor allem von Reiserückkehrern getrieben wurde“, sagte Kai Nagel von der TU Berlin. In Modellierungen ließ sich das Infektionsgeschehen deutlich besser abbilden, wenn Einschleppungen eingerechnet wurden. Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sagte den „Tagesthemen“, dass Einschleppungen umso mehr ins Gewicht fallen, je besser das Infektionsgeschehen im Land selbst kontrolliert wird.
Er geht davon aus, dass gerade die neuen Mutanten eingeschleppt werden. Insofern sei es sinnvoll, den touristischen Flugverkehr einzuschränken. Es helfe immer, Krankheitsimporte zu reduzieren, sagt Nagel. Die Varianten B117 und B1351, mittlerweile an mehreren Orten in Deutschland nachgewiesen, wären aber nach seiner Einschätzung auch mit schon früher angeordneten Reisebeschränkungen nicht aufgehalten worden: „Wir können nicht alle abfangen.“
Reiseverbote trotz wirkungsvoller Impfstoffe?
Im Dezember wurde in Südafrika erstmals die Virusvariante B1351 nachgewiesen, die im Labor mit verschiedenen Antikörpern gegen die ursprüngliche Variante von Sars-CoV-2 nicht neutralisiert werden kann, berichten südafrikanische Forscher in einer bislang nicht begutachteten Studie. Da die bislang in Deutschland eingesetzten Impfstoffe auf der ursprünglichen Form eines Virenproteins beruhen, ist fraglich, ob sie effektiv vor der südafrikanischen Variante schützen werden.
Es könnten auch weitere neue Varianten mit sogenannten „Escape-Mutationen“ entstehen, gegen die die bisherigen Impfungen nicht helfen. In solchen Fällen könnten Reisebeschränkungen notwendig werden.
Welche wirtschaftlichen Folgen hätten mehr Reisebeschränkungen?
Die deutsche Wirtschaft sieht weitere Reisebeschränkungen mit Schrecken. Die deutschen Maschinenbauer befürchten, dass Monteure oder Servicetechniker nicht mehr zu den Kunden fahren oder fliegen können, wenn Grenzkontrollen verschärft und der Flugverkehr eingeschränkt wird.
„Die Bekämpfung der Corona-Pandemie wird zunehmend auf dem Rücken der Wirtschaft ausgetragen, ohne dass die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen in jedem Fall erkennbar ist“, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, Thilo Brodtmann, am Mittwoch.
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Für das Speditionsgewerbe sind weitere Verschärfungen ein Albtraum. „Welche Belastungen auf die in der Logistik beschäftigten Menschen zukommen können, haben die kilometer- und tagelangen Staus in Südengland während der Weihnachtstage des vergangenen Jahres auf dramatische Weise gezeigt“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Spedition und Logistik (DSLV), Frank Huster, dem Tagesspiegel.
Die Einbeziehung des Güterverkehrs in die Corona-Einreiseverordnung könne Lieferketten „erheblich gefährden“ und den „Warenfluss zwischen den Ländern erheblich behindern“, wenn es immer mehr Gebiete gibt, in denen eine der ansteckenden Virusvarianten verbreitet ist. Dabei seien Lkw-Fahrer, die die meiste Zeit in ihren Fahrerkabinen sitzen, so gut wie kein Risiko, meint Huster: Das Fahrpersonal arbeite weitgehend isoliert von anderen Menschen.