"Islamischer Staat" an Türkischer Grenze: Sind die Terroristen noch zu stoppen?
Die Türkei sieht sich vom IS unmittelbar bedroht. Hunderttausende sind bereits aus der umkämpften Grenzstadt Kobane geflohen. Wie geht es weiter? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Hunderttausende sind auf der Flucht. Trotz massiver Luftangriffe des US-Militärs droht die Stadt Kobane im syrisch- türkischen Grenzgebiet an die Terroristen des selbst ernannten „Islamischen Staates“ (IS) zu fallen. Es wäre ein strategisch wichtiger Sieg mit weitreichenden Folgen für die Region. Insbesondere die Türkei ist nun gefragt, wenn der Vormarsch der Islamisten noch gestoppt werden soll.
Kann der IS Kobane erobern?
Gegen die Umkreisung des IS haben die Kurden in Kobane alleine kaum eine Chance. Die Dschihadisten rücken von Osten, Westen und Süden an das Stadtzentrum heran. Nur im Norden Kobanes steht der IS nicht – denn dort liegt das türkische Staatsgebiet. Die türkischen Behörden haben den Grenzübergang bei Kobane geschlossen und lassen nach kurdischen Angaben keine Hilfe für die Verteidiger in der Stadt durch. Flüchtlinge aus Kobane werden jedoch nach wie vor in der Türkei aufgenommen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan rechnet fest mit einer Eroberung Kobanes durch den IS. „Kobane ist gefallen oder fällt gerade im Moment“, sagte Erdogan am Dienstag in einer Rede in der Stadt Gazianteo im Grenzgebiet zu Syrien. Die türkische Armee steht mit Panzerverbänden und Truppen an der Grenze bei Kobane, greift bisher aber nicht ein. Saleh Müslim, Chef der Demokratischen Unionspartei (PYD), die in den Kurdengebieten Nordsyriens herrscht, kritisierte die Untätigkeit Ankaras. Die türkische Regierung habe ihm Hilfe für Kobane versprochen, erklärte er. Syrische Kurden befürchten, dass der IS nach einem Sieg in Kobane die beiden anderen Kurdenzonen in Nordsyrien angreifen wird.
Wie viele Opfer gab es?
Bei den Gefechten zwischen Dschihadisten und kurdischen Kämpfern sind nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten bereits mehr als 400 Menschen getötet worden. Bei den meisten der insgesamt 412 Opfer handele es sich um Kämpfer beider Seiten, teilte die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Dienstag mit. Den Angaben zufolge starben seit Beginn der Kämpfe 219 Dschihadisten des „Islamischen Staats“ (IS), 173 kurdische Kämpfer sowie 20 Zivilisten. Nach Angaben der Beobachtungsstelle liegt die Opferzahl vermutlich weit höher. Inmitten der Kämpfe sei es jedoch schwierig, Todesfälle zu dokumentieren.
Wer ist bedroht?
Es blieb zunächst offen, wie viele Zivilisten sich noch in Kobane aufhalten. Rund 180 000 Menschen sind in den vergangenen drei Wochen von dort in die Türkei geflohen. In der Nacht zum Dienstag kamen erneut Flüchtlinge über die Grenze.
Die kurdische Stadtregierung von Kobane erklärte jedoch, „Bevölkerung und Kämpfer“ würden dem IS nicht weichen und in der Stadt bleiben. Es gebe mehrere tausend Zivilisten, die durch eine Intervention des Auslands vor dem IS gerettet werden müssten. „Die internationalen Mächte und die internationale Gemeinschaft tragen eine Mitschuld an einem möglichen Massaker.“
Wieso greift die Türkei nicht ein?
Die Türkei fordert als Gegenleistung für Hilfe, dass die syrischen Kurden auf ihre in den vergangenen Jahren errichtete Selbstverwaltung verzichten, sich klar zum Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar al Assad bekennen und die kurdischen Kämpfer der Oppositionstruppe „Freie Syrische Armee“ (FSA) unterstellen. Bisher deutet nichts darauf hin, dass PYD-Chef Müslim diese Bedingungen akzeptieren will.
Die Türkei zögert auch deshalb mit einer Intervention in Kobane, weil Müslims PYD ein Ableger der türkisch-kurdischen Rebellenorganisation PKK ist, die als Terrorgruppe gilt. Türkische Nationalisten würden Hilfe für die PYD wahrscheinlich als Unterstützung des türkischen Staates für die PKK anprangern. Ankaras Abwarten hängt aber auch mit der Forderung zusammen, die US-geführte Koalition in Syrien solle nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen Assads syrische Regierungstruppen vorgehen. Dann sei die Türkei auch zur Entsendung von Bodentruppen ins Nachbarland bereit, sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu CNN.
Wie reagiert die türkische Öffentlichkeit?
Angesichts der Lage in Kobane wächst der innenpolitische Druck auf Davutoglu, trotz aller Vorbehalte zugunsten der Kurden einzugreifen. Die türkische Kurdenpartei HDP verlangte eine Intervention in Kobane, in mehreren türkischen Städten gingen kurdische Demonstranten auf die Straße. In Istanbul lieferten sich Kurden heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Am Dienstag gab es neue gewalttätige Demonstrationen in Istanbul und im Kurdengebiet. Nach unbestätigten Berichten kam dabei ein kurdischer Demonstrant ums Leben.
Was bedeutet das für die PKK?
Die PKK droht mit einem Ende des Friedensprozesses mit Ankara, falls der IS Kobane einnimmt. Der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit Ende 2012 mit Ankara über eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts in der Türkei verhandelt, setzte der Regierung ein Ultimatum bis zum 15. Oktober, um den Friedensprozess zu retten. Sollte die PKK die Verhandlungen aufkündigen, könnten die seit anderthalb Jahren eingestellten Gefechte zwischen den kurdischen Rebellen und der türkischen Armee erneut beginnen.
Wie wirkungsvoll sind die Luftangriffe?
Amerikanische Luftangriffe in der Nacht zum Dienstag hatten die Dschihadisten nicht stoppen können. Eine Verstärkung der Luftangriffe ist aus Sicht der Kurden längst überfällig. Nach US-Militärangaben flogen die Anti-IS-Verbündeten vor Dienstag insgesamt ein Dutzend Angriffe. Angesichts der wochenlangen Belagerung der Stadt durch IS ist das relativ wenig. Beim Kampf um den Mossul- Damm im Nordirak wurden fast zehnmal so viele Angriffe geflogen. Damals gelang es, den IS zurückzudrängen.
Wie ist Deutschland involviert?
Als Nato-Mitglied hat die Türkei Anspruch auf Beistand durch seine transatlantischen Partner. Im Dezember 2012 beschloss der Deutsche Bundestag, Flugabwehreinheiten in die Türkei zu verlegen, nachdem einzelne Raketen der syrischen Armee auf türkischem Gebiet niedergegangen waren. 265 deutsche Soldaten sind dafür im Einsatz. Sollte der IS die Türkei angreifen, könnte die Türkei die Nato um weitere Unterstützung bitten. Gefragt wären dann aber nicht Bodentruppen der Nato, sondern Hilfe bei der Aufklärung feindlicher Stellungen und Luftunterstützung zur Absicherung türkischer Militäroperationen.