Die SPD und die Flüchtlingskrise: Sigmar Gabriels Gratwanderung vor dem Parteikongress
In der Flüchtlingsfrage ist die SPD gespalten. Ihr Parteichef Sigmar Gabriel sendet vor dem Perspektivkongress der SPD Doppelbotschaften.
Wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel an diesem Sonntag in Mainz ans Rednerpult tritt, werden viele Genossen ganz genau hinhören. Eigentlich sollte es bei dem Kongress um Perspektiven der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl 2017 gehen, präziser: um die Frage, wie weit die SPD in die Mitte rücken muss, um Volkspartei zu bleiben. Doch weil die Realität auf sozialdemokratische Selbstfindungsprozesse keine Rücksicht nimmt, wird ein ganz anderes Thema die Debatte bestimmen.
Wie viele Flüchtlinge verträgt Deutschland noch? Diese Frage treibt die Sozialdemokratie in besonderer Weise um. Man könnte auch sagen: Das Thema spaltet die SPD. Laut Politbarometer steht nur noch eine Minderheit der SPD-Anhänger (46 Prozent) hinter der Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). 49 Prozent halten Merkels Kurs für falsch.
Gabriel hat das Kippen der Stimmung nicht überrascht. Stimmungen wahrzunehmen gehört zu seinen Stärken. Aber der Parteivorsitzende steht auch immer in der Gefahr, sich von Stimmungen leiten zu lassen. Viele von Gabriels Genossen fürchten, dass es in Mainz wieder so weit ist, dass der Chef bei der Gratwanderung zwischen humanitären sozialdemokratischen Grundsätzen auf der einen und dem Verständnis für die Notlage der Kommunen und die Überfremdungsängste in der Bevölkerung auf der anderen Seite die Balance verliert.
Bislang verfährt Gabriel nach der Methode sowohl als auch: Nach Merkels Auftritt bei Anne Will verteidigte er die Kanzlerin energisch: „Wir haben in Europa keine Zugbrücke, die wir hochziehen können.“ Nur einen Tag später setzte er sich von Merkel ab und brachte eine Obergrenze für die Zahl der Asylbewerber ins Spiel. „Wir können nicht dauerhaft in jedem Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge aufnehmen und integrieren“, schrieb er gemeinsam mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im „Spiegel“.
Vielmehr müssten die Menschen mit ihren Problemen und Bedürfnissen ernst genommen werden, forderten beide. „Unsere Politik wird nur dann auf Dauer mitgetragen, wenn wir die Hilfsbereitschaft der Menschen in unserem Land nicht überfordern.“ Die Debatte dürfe sich nicht nur zwischen „Wir schaffen das“ und „Das Boot ist voll“ bewegen, sonst drohe „die Flüchtlingsfrage unsere Gesellschaft zu zerreißen“.
Wie die Gesellschaft steht auch die SPD vor einer Zerreißprobe
Wie die Gesellschaft steht auch Gabriels Partei vor einer Zerreißprobe: Auf der einen Seite machen die sozialdemokratischen Bürgermeister und Ministerpräsidenten Druck, deren Behörden und Mitarbeiter sich oft jenseits der Grenzen ihrer Belastbarkeit um die Aufnahme und Unterbringung von immer mehr Flüchtlingen bemühen. Auf der anderen Seite verstehen sich nicht nur Genossen vom linken Parteiflügel als Wächter des geltenden deutschen Asylrechts. Sie haben Gabriel im Verdacht, Grundrechte und Grundsätze im Zweifel über Bord zu werfen. Bei Merkels emotionalem Bekenntnis zu Deutschlands „freundlichem Gesicht“ fühlen sie sich besser aufgehoben.
Prompt widersprach deshalb die Juso-Chefin den Thesen von Gabriel und Steinmeier zur Endlichkeit der deutschen Aufnahmefähgikeit. „Das Recht auf Asyl kennt zu Recht keine Obergrenzen“, sagte Johanna Uekermann dem Tagesspiegel: „Anstatt über Zahlen zu spekulieren, müssen wir mutig handeln und jetzt in den Wohnungsbau sowie Integrationsangebote investieren.“
Noch härter ging die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis vom linken Flügel mit Gabriel und Steinmeier ins Gericht. „Populistische Töne anzuschlagen schadet der Willkommenskultur und der Akzeptanz der Flüchtlinge in der Bevölkerung“, warnte sie: „Wir sollten uns darauf konzentrieren, für mehr Unterstützung der Städte und Gemeinden durch den Bund zu sorgen, anstatt Zweifel zu säen und Ängste zu schüren."
Das alles wäre für Gabriel verkraftbar, allzumal auch der linke Parteiflügel in der Flüchtlingsdebatte gespalten ist. So verlangte etwa Fraktionsvize Axel Schäfer ein Ende der ungesteuerten Zuwanderung: „Die Botschaft muss heißen, wir schaffen das – und wir müssen Zuwanderung begrenzen.“ Dieser Aspekt sei „unverzichtbar“.
Schwerer wiegt für den Parteichef, dass sein Ruf nach Obergrenzen bis in die SPD-Führung hinein umstritten ist. Denn wer ein Limit verlangt, muss über kurz oder lang die Frage beantworten, wie er es durchsetzen will. Die stellvertretenden Parteivorsitzenden Hannelore Kraft (Nordrhein-Westfalen) und Olaf Scholz (Hamburg) haben Gabriel deshalb intern wiederholt davor gewarnt, Erwartungen zu wecken, die er nicht erfüllen könne.
Parteikenner sagen voraus, es werde noch lange dauern, bis die SPD-Führung zu einer gemeinsamen Linie finden könne. Gabriels Rede in Mainz wird das Dilemma kaum auflösen können. Ein SPD-Stratege: „Da kommen massive Auseinandersetzungen auf uns zu.“