Griechenland-Krise: Sie mussten sparen - was denken Osteuropäer über Griechen?
Staaten Osteuropas haben durch Reformen ihre Krisen gemeistert und einen hohen Preis bezahlt. Mit Blick auf Griechenland schwanken die Osteuropäer zwischen Verständnis und Zorn.
SLOWENIEN
Der Rechtsprofessor ist ein sehr freundlicher Mann, der seine Worte vorsichtig wählt. „Unser Land würde gerne Griechenland und seinen Bürgern helfen, aber es kann keine Manöver tolerieren, mit denen die griechische Regierung versucht, Reformbemühungen zu vermeiden“, sagte Miro Cerar vor wenigen Tagen. Wenn einer wie der superhöfliche slowenische Premier von „Manövern“ spricht, dann muss er schon richtig sauer sein. Man sei immer solidarisch gewesen und das, obwohl Slowenien durch die Garantien und Kredite für Griechenland hohe finanzielle Verpflichtungen übernommen habe. Nun erwarte man zu Recht, „eine konstruktive Kooperation“ und die „Umsetzung von einigen wesentlichen Strukturreformen“, fuhr Cerar fort.
Finanzminister Dušan Mramor pflichtete bei. Griechenland sei bisher nicht bereit gewesen, genügend zu ändern, und das sei insbesondere deshalb inakzeptabel, weil „Slowenien gezeigt hat, dass gut überlegte Maßnahmen zu einem substanziellen Fortschritt“ führen können. Griechenland solle also die slowenische Lektion lernen. Basta.
Die harte Haltung hat damit zu tun, dass Slowenien selbst beinahe unter den Rettungsschirm musste, nachdem es ab 2008 in eine schwere Banken- und Finanzkrise geschlittert war. Mehrheitlich staatliche Banken hatten faule Kredite angehäuft und mussten gerettet werden. In Slowenien wurde ein Bad Bank geschaffen, und das Land mit dem höchsten Anteil an staatlichen Unternehmen in der EU muss nun 13 von ihnen verkaufen. Nach jahrelanger Verzögerungstaktik schaffte es zunächst Alenka Bratušek ab März 2013, den Reformkurs einzuleiten, ihr Nachfolger im Amt des Premiers, Miro Cerar, blieb auf dieser Linie.
Slowenien ist heute wieder stabil, die schlimmsten Jahre sind vorbei. Doch gerade weil die Sanierung Einsparungen und Reformen verlangte und weiterhin verlangt, hat man wenig Verständnis dafür, wenn dies andere verweigern. 2011 zahlte man für Griechenland 263 Millionen Euro. Das waren zwar nur 0,5 Prozent des Kredits über 53 Milliarden Euro – doch wenn Griechenland Pleite gehen würde, müsste Slowenien 925 Millionen Euro abschreiben, die es an finanziellen Verpflichtungen (Kredite und Garantien) gegenüber dem Balkanstaat eingegangen ist.
Nach Regierungsangaben machen die finanziellen Verpflichtungen gegenüber Griechenland 3,2 Prozent des slowenischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus – damit wäre der BIP-Anteil so hoch wie in keinem anderen Euro-Land. In Deutschland liegt der BIP-Anteil bei 2,7 Prozent. Die Regierung in Ljubljana hatte zuletzt sogar geschwindelt und die finanziellen Verpflichtungen mit 1,3 Milliarden noch höher angegeben. Es ist jedenfalls viel Geld für den Zwei-Millionen-Einwohner-Staat. Die Durchschnittslöhne in Slowenien sind zudem nur marginal höher als die in Griechenland.
Die einzige Partei, die in Slowenien für Syriza und die griechische Regierung Stellung bezieht, ist die Vereinigte Linke, die im Vorjahr bei den Wahlen auf Anhieb sechs Prozent bekam. „Obwohl die harte Haltung von Mramor gegenüber Griechenland für Stirnrunzeln bei manchen Unternehmern sorgte, die denken, dass man dadurch verlieren könne, teilen die meisten Slowenen das Gefühl, dass ein Schuldenschnitt nicht in Frage kommt“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jure Stojan. Vor allem deshalb, weil Slowenien für die griechischen Kredite selbst Geld aufnehmen musste, dafür hohe Zinsen zahlt und zusätzliche Sparmaßnahmen durchführen musste. Als Handelspartner ist Griechenland zudem unwichtig für Slowenien. Export und Import belaufen sich etwa auf 80 Millionen Euro im Jahr. Im Gegensatz dazu exportiert und importiert Slowenien Waren nach und aus Deutschland im Wert von mehr als vier Milliarden Euro im Jahr.
„Die Regierung will sehen, dass Geld zurückgezahlt wird, weil sie fürchtet, dass ein Schuldenerlass für Griechenland das slowenische Haushaltsdefizit vergrößern und noch höhere Zinszahlungen notwendig machen würde“, sagte der Politologe Marko Lovec. Was die Slowenen aber noch mehr sorge, sei der Umstand, dass sie in die wichtigsten Verhandlungen zwischen Merkel, Hollande und Tsipras nicht eingebunden waren und Griechenland sämtliche Forderungen aus Ljubljana einfach ignorierte. Auch für Griechenland ist Slowenien nämlich einfach nicht wichtig. Bei manchen Slowenen stellt sich nach all dem Ärger mittlerweile Ernüchterung und Pragmatismus ein: „Wir können unser Geld einfach vergessen“, mutmaßte Außenminister Karl Erjavec kürzlich. Adelheid Wölfl
Die Lehren aus der Krise? Der Zloty!
POLEN
Griechenland bleibt vermutlich nur der Austritt aus der Euro-Zone“, kommentierte Ministerpräsidentin Ewa Kopacz das Referendums-Nein. Die Griechen seien eben nicht bereit, harte Reformen einzuleiten, gibt sich die polnische Regierung seitdem überzeugt. Finanzminister Szczurek zieht aus dem Griechenland-Debakel für Polen die Lehre, vorerst am Zloty als Landeswährung festhalten. „Polen wird kein zweites Griechenland“, verspricht deshalb Kopacz und pocht auf Budgetdisziplin.
Mit Sonderseiten bereiten Medien die Polen schon seit Tagen auf den „Grexit“ vor. Griechenland ist vor Kroatien, Italien und Spanien das beliebteste Urlaubsland. Dazu kommt eine kleine, aber besonders im Showbusiness präsente griechische Minderheit in Polen. Anknüpfungspunkte gibt es also genug. Die jahrelange Krise habe die Kriminalität anschwellen lassen, besonders vor Dieben solle man sich deshalb in acht nehmen, wird den Urlaubern geraten. Dazu solle man wegen der langen Schlangen vor den Geldautomaten mehr Bargeld als üblich mitnehmen und den Wagen vor der Grenze noch mal ganz volltanken. Das polnische Außenministerium hält Reisen nach Griechenland dennoch für unbedenklich.
Schlimmer stehe es um die Langzeitfolgen eines „Grexit“, warnen Presse, TV und Internetportale. Spitze sich die Krise weiter zu, hätten alle europäischen Schwellenländer unter den Ängsten der Investoren zu leiden, auch Polen. Der Kurs der Landeswährung Zloty würde gegenüber dem Euro, vor allem aber dem Schweizer Franken fallen, warnt die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Dies trifft die rund 700 000 Hypothekarschuldner in Franken besonders hart. Bereits die Entscheidung der Schweizer Nationalbank, die Euro-Bindung aufzuheben, hat Tausende in den Ruin getrieben. Ein weiterer Anstieg des Frankenkurses hätte schlimme Auswirkungen – zumal das Thema in Polen ein beliebtes Wahlkampfthema der Rechtspopulisten ist. Wer Geld anlegen wolle, solle dies künftig weltweit und nicht nur in Europa tun und am ehesten Land oder Immobilien kaufen, wird geraten.
Politische Kommentatoren mahnen indes dringend zu einem Kompromiss. Angela Merkels harte Haltung wird gerade auch angesichts des Schuldenschnitts für die BRD von 1953 in Polen kritisiert. Klar müsse Griechenland den Gürtel noch enger schnallen, heißt es, doch bringe Sparen alleine auf die Dauer keine Lösung. Polen, das auch nach 2008/9 als einziges EU-Mitglied keine Rezession erlebte, fürchtet nun größere Turbulenzen. Eine Krise der EU als Ganze habe vor allem an der Weichsel einen hohen Preis, denn Polen sei der größte Nettoempfänger. Die „Gazeta Wyborcza“ warnt vor einer Anti-EU-Stimmung und Wahlgewinnen für Neofaschisten und Linksextremisten, „die Syriza im Vergleich wie eine Partei des Zentrums aussähen ließen“. Die Wiedereinführung der Drachme als Parallelwährung würde Athen dazu verleiten, sich in der Ukrainepolitik von Brüssel abzuwenden und mit Moskau zu verbünden. „Ein Grexit wäre ein Beweis dafür, dass die europäische Solidarität versagt hat“, mahnt die linksliberale „Gazeta Wyborcza“. Paul Flückiger
Tallinn, Riga und Vilnius wollen nicht mehr
BALTIKUM
Mit mutigen Reformen haben sich die drei Baltenstaaten die Aufnahme in die Euro-Gruppe erkämpft. Nun signalisieren Litauen, Lettland und Estland, dass sie gegen weitere Zugeständnisse an Griechenland sind. „Die Zeit des Feierns auf Kosten Anderer ist für Griechenland vorbei“, sagt die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite. Die Staatschefin des jüngsten Euro-Mitgliedes fordert, Athen solle Reformen nicht nur beschließen, sondern diese auch umzusetzen.
Reformen in Griechenland seien weiterhin unvermeidbar, pflichtet Estlands Regierungschef Taavi Roivas bei. Via Twitter verbreitete er die Idee, man könnte nun im Baltikum ein eigenes Referendum darüber abhalten, ob man den Griechen weiter Geld leihen wolle – und wie Athen einfach aufs Volk hören. Bereits zweimal habe Estland, dessen durchschnittliches Lohnniveau zehn Prozent unter dem griechischen liege, einem Hilfspaket für Griechenland zugestimmt, doch so könne es nicht weitergehen.
Die estnische Regierung weist darauf hin, dass „ärmere Länder als Griechenland“ drohten, einen Teil ihrer Wirtschaftskraft zu verlieren. Um dies zu verhindern, hatte Lettland gar bereits 2012 einen Euro-Austritt Athens gefordert. „Bislang hat die griechische Regierung nicht mehr getan, als ihre Wirtschaft bergab zu führen“, kritisierte nun der lettische Finanzminister Janis Reirs. Einen erneuten Schuldenerlass lehnt der Lette rundweg ab.
Sowohl Estland (2011), als auch Lettland (2013) und Litauen (2015) konnten den Euro nur einführen, nachdem sie im Zuge der Wirtschaftskrise rigide und für die Bevölkerung schmerzhafte Sparrunden umgesetzt hatten. Estland schaffte die Gesundung aus eigener Kraft, doch das Bruttoinlandsprodukt brach um 14 Prozent ein. Am schlimmsten traf es Lettland, das auf einen Stützkredit über 7,5 Millionen Euro von EU und IWF angewiesen war. Die Regierung in Riga entließ jeden dritten Beamten, hob die Steuern an und kürzte die öffentlichen Ausgaben und Sozialleistungen. Das Bruttoinlandsprodukt brach um einen Viertel ein, die Arbeitslosigkeit verdreifachte sich.
Auch in Litauen setzte die Regierung ein massives Sparprogramm um. Dennoch lehnte die Euro-Gruppe die Aufnahme von Vilnius zuerst ab, weil die Inflation geringfügig höher als die Maastrichtkriterien von drei Prozent waren. Griechenland dagegen habe den Euro ja geschenkt bekommen und sich danach an keinerlei Regeln mehr gehalten, ist nun in Litauen immer wieder zu hören.
Zu Protesten kam es auf der Höhe der Kürzungswellen nur einmal. Die baltischen Regierungen konnten auf einen patriotischen Konsens in der Bevölkerung setzen: Die Rückkehr der drei ehemaligen Sowjetrepubliken in die europäische Familie, nach Jahrzehnten russischer Besetzung, war eben mit Schwierigkeiten verbunden. Die Leidensbereitschaft war entsprechend groß. Dass die drei jungen Staaten auf die Steuern ihrer Einwohner angewiesen sind, ist im Baltikum ein Gemeinplatz. Paul Flückiger
Polemisch gegen die Nachbarn
TSCHECHIEN UND SLOWAKEI
Dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, dafür ist der tschechische Finanzminister Andrej Babis bekannt. „Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist“, so hob er neulich in einer Rede vor Diplomaten an, „dass Griechenland in den vergangenen zweihundert Jahren vier Mal bankrott gegangen ist.“ Und dann fügte er trocken einen Satz mit Sprengkraft hinzu: „Ich denke, das Land sollte endlich zum fünften Mal bankrott gehen, damit sich der Raum säubert.“
Andrej Babis hat eine besondere Perspektive auf die Finanzkrise in Griechenland – nicht nur die des Staatsmanns, sondern auch die des Unternehmers. Mit seinem Agrar-Konzern zählt der Milliardär zu den reichsten Tschechen. Seine eigene Partei ist erst seit der laufenden Legislaturperiode im Parlament, sie koaliert mit den Sozialdemokraten und den kleinen Christdemokraten. Der sozialdemokratische Premierminister Bohuslav Sobotka musste bereits öfter zurückrudern, wenn sich sein Finanzminister und wichtigster Koalitionspartner Andrej Babis weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Nach den Euro-Äußerungen war es wieder einmal so weit: „Ein Bankrott Griechenlands würde der ganzen EU schaden und indirekt auch der tschechischen Wirtschaft“, verkündete der Premier in einer schriftlichen Reaktion. „Die Länder der EU sollten sich helfen und sich nicht mit starken Äußerungen gegenseitig in die Ecke drängen.“
In der Slowakei hingegen, die anders als Tschechien Mitglied der Euro-Zone ist, bereitet die sozialdemokratische Regierung das Land behutsam auf einen möglichen „Grexit“ vor. „Die Slowakei ist wirtschaftlich nicht so stark mit Griechenland verbunden wie andere Länder“, sagte Premier Robert Fico in einer Fernsehdiskussion. „Bei unserem hohen Wirtschaftswachstum, das zu den höchsten der EU gehört, sollten wir das nicht bedeutender spüren.“
Die Slowakei hat 2009 den Euro eingeführt – ausgerechnet in jenem Jahr, in dem die Griechenland-Krise zum ersten Mal spürbar wurde. Obwohl der Fünf-Millionen-Einwohner-Staat zu den ärmsten Ländern der Euro-Zone gehört, haben die Slowaken eine Milliardensumme zum Rettungspaket beigesteuert. Populistische Töne hat die Regierung dabei nicht angeschlagen, sondern an die europäische Solidaritätspflicht erinnert.
Im Februar hat Premier Fico dann erstmals zu erkennen gegeben, dass die Geduld der Slowaken allmählich ende. Er sei gegen eine Erleichterung der Bedingungen für Athen und gegen weitere Finanzhilfen, sagte er in einem Interview. Finanzminister Petr Kazimir äußerte unlängst gegenüber slowakischen Journalisten, dass es bei den EU-Verhandlungen mit Griechenland Länder gebe, die vom Schuldner „hart die Erfüllung der Hausaufgaben einfordern“; die Slowakei habe stets zu dieser Ländergruppe gehört.
In Tschechien indes rückt eine andere Frage in den Hintergrund, die in den vergangenen Jahren immer lauter geworden ist: die der Euro-Einführung. „Ich bin froh, dass wir nicht Mitglied der Euro-Zone sind“, sagte Finanzminister Andrej Babis unlängst. Bereits zuvor hatte er ein Referendum über die Einführung der Gemeinschaftswährung vorgeschlagen. Tschechien zählt unter den östlichen EU-Mitgliedstaaten zu den wirtschaftsstärksten. Aber seit dem EU-Beitritt 2004 haben Regierungen aller Parteien eine Entscheidung über den Euro immer weiter verschoben. Kilian Kirchgeßner
Moskau bleibt auf Distanz
RUSSLAND
Livereportagen, wie sie Griechenlandkorrespondenten russischer Medien – darunter auch staatsnaher – derzeit fast täglich abliefern, entsprechen durchaus dem, was man auch im Westen unter objektiver Berichterstattung versteht. Nur ein bisschen Mitgefühl mit den orthodoxen Glaubensbrüdern, die jetzt vor den verschlossenen Türen von Banken stehen wie die Russen selbst bei der Faststaatspleite 1998, scheint manchmal durch.
Parallelen drängten sich offenbar auch dem auch nach seiner Entlassung sehr einflussreichen Exfinanzminister Alexei Kudrin auf. Griechenland, so schrieb er in einem Leitartikel für die Wirtschaftszeitung „Kommersant“, sei ein „warnendes Beispiel dafür, was mit einem Land passiere, das eine schwache Wirtschaft und geringe Produktivität hat“. Andere Kolumnisten und Analysten hatten ihr Pulver gleich nach dem Scheitern der Verhandlungen vor zwei Wochen verschossen. Athen lasse sich von den Gläubigern nicht länger die Bedingungen diktieren, tönte etwa Dmitri Kisseljow, der Chef von „Russia Today“, der Staatsholding für Auslandspropaganda, der auch im russischen Staatsfernsehen den politischen Wochenrückblick moderiert. Zum Einknicken habe Regierungschef Alexis Tsipras kein Mandat, daher setze er auf einen Volksentscheid. Ein Wort, das Brüssel allein schon wegen des Krimreferendums über den Beitritt zur Russischen Föderation in Rage bringe. Mit ihrer Kritik an dem griechischen Plebiszit hätten die Eurokraten jedoch ein Eigentor geschossen und gezeigt, was sie in Wahrheit von Demokratie halten. Vor allem aber: Erstmals hätte die Euro-Zone eine Erklärung verabschiedet, die nicht von allen unterzeichnet wurde. Der Konsens – das Prinzip, auf dem sich die europäische Einheit gründet – funktioniere nicht mehr.
Für die EU habe die „Stunde der Wahrheit“ geschlagen, titelte auch die eher kritische „Nesawissimaja Gaseta“. Die Krise habe ein politisches Beben ausgelöst, dessen Folgen noch nicht absehbar seien. Durch übermäßigen Druck in die Enge getrieben, reagiere Tsipras zunehmend unberechenbarer. Europa aber habe kein Konzept für den weiteren Umgang mit ihm. In den wichtigsten Machtzentren herrsche Ratlosigkeit. Keine der drei Varianten, die derzeit dort im Gespräch sind – abwarten, Druck nochmals erhöhen, Tür zuknallen – sei mehrheitsfähig und tauge als Grundlage für einen Konsens.
Sogar von Liberalen waren eher kritische Töne zu hören. Niemand in Europa, sagte Andrei Susdalzew von der Moskauer Hochschule für Ökonomie, wo Querdenker den Ton angeben, habe sich ernsthaft um Wachstum für Griechenland gekümmert. Das Land sei „industrielle Peripherie“: Lieferant von Arbeitskräften und Absatzmarkt für die „Produktionsstätte Kerneuropa“. Kollege Boris Frumkin vom Wirtschaftsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften sieht das ähnlich. Zwar habe Griechenland „die Spielregeln verletzt“. Doch inzwischen sei die Wirtschaftslage so angespannt, dass die Gläubiger ihre Forderungen nicht weiter verschärfen könnten. Ein Kompromiss wäre indes auch für Europa wünschenswert. Turbulenzen würden das Wirtschaftswachstum, das sich dort gerade abzeichnet, wieder abwürgen.
Der Chefredakteur des Onlineportals „Carnegie.ru“, Alexander Baunow, erklärte in seinem Blog, Tsipras habe von Anfang an mit aggressiver Rhetorik auf die falsche Taktik gesetzt und sich verzockt. Mit seinem Konfrontationskurs habe Tsipras sich für die schlechteste aller möglichen Varianten entschieden, meinte auch Andrei Illarionow, der ehemalige Wirtschaftsberater von Kremlchef Wladimir Putin. Seine Erpressungsversuche würden nur neue schwere Probleme schaffen. Putin selbst hält sich bedeckt. Russland verfolge die Entwicklungen sehr aufmerksam, ließ er bisher lediglich verkünden. Und statt Kredite hatte er Tsipras auf dem internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg Mitte Juni Hilfe zur Selbsthilfe angeboten. Durch den Bau des griechischen Anschlussstücks für die Schwarzmeer-Gaspipeline Turk Stream würden Durchleitungsgebühren in Milliardenhöhe anfallen und tausende neue Jobs entstehen. Das würde Griechenland nachhaltiges Wachstum bescheren und helfen, den Schuldenberg abzutragen.Elke Windisch