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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag in Berlin.
© dpa

Merkels Wende in der Flüchtlingspolitik: Sie hat verstanden

Die Deutschen sind gereift im vergangenen Jahr. Ihre humanitäre Moral stieß an Grenzen. Angela Merkel wird in diesem Prozess als Spiegelbild gebraucht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Sie sagt oft „ich“, versteckt sich nicht hinter einem anonymen „wir“ oder „man“. Das ist, wie so manches am vergangenen Montag im Konrad-Adenauer-Haus, untypisch für Angela Merkel. Denn die Kanzlerin hat ein Ziel: Sie will sich mit den Deutschen versöhnen, will ihnen von ihrer eigenen Reifung in der Flüchtlingspolitik erzählen. Aus der großen humanitären Geste von einst wird eine einmalige, situativ bedingte, von Fehlern, Kontrollverlusten und Enttäuschungen begleitete Maßnahme, die sich auf keinen Fall wiederholen dürfe. Mehr Distanz zu sich selbst war nie. Dichter dran an den besorgten Bürgern war Merkel allerdings auch noch nie.

Dabei vollzieht sie in jenen zehn Minuten rhetorisch nur eine Wende nach, die sie praktisch längst vollzogen hat. Mit neuen Abschiebegesetzen, Asylrechtsänderungen, Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten, strengen Residenzpflichten, einem Integrationspaket, inklusive Sanktionen für Integrationsverweigerer, dem EU-Türkei-Abkommen. Sogar der Schließung der Balkanroute, die von ihr lange Zeit kritisiert worden war, gewinnt Merkel positive Seiten ab. Doch das deutlichste Zeichen ihres Wandels ist der Abschied von „Wir schaffen das“, dem alles überragenden Symbolslogan der Willkommenskultur. Der Satz sei ursprünglich „Ausdruck von Haltung und Ziel“ gewesen, aber dann sei so viel in ihn hineininterpretiert worden, „dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag“.

Wer will, kann Merkels Rede auf ihre taktischen Elemente reduzieren. Sie robbt sich an Horst Seehofer ran, bereitet ihre nächste Kanzlerkandidatur vor, nimmt die Schuld für das Wahldebakel der Berliner CDU auf sich. Aber das würde diesem seltenen Wahrhaftigkeitsaugenblick in der Politik nicht gerecht. Wann je darf das Volk teilhaben an Irrtümern der Handelnden, an ihren Versäumnissen und späteren Einsichten? „Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen“, sagt Merkel. Zu lange etwa habe sich Deutschland darauf verlassen, dass das Dublin-Verfahren funktioniere. Selbstverschuldet unvorbereitet habe die Regierung auf die Flüchtlingskrise reagieren müssen.

Wer da nicht helfen wollte, hatte kein Herz

Im Spätsommer 2015 überwogen Gefühle. Tote Flüchtlinge im Kleintransporter, verzweifelte Flüchtlinge in Ungarn, Bomben und Raketen in Syrien. Wer da nicht helfen wollte, hatte kein Herz. Merkels Politik der offenen Grenzen wurde von den meisten Deutschen geteilt, wer Bedenken äußerte, wohnte in Kaltland. Dann füllten sich die Turnhallen, es kam die Silvesternacht von Köln, Terrorverdächtige wurden verhaftet, die sich als Flüchtlinge getarnt hatten, und statt aus gut ausgebildeten syrischen Ärzten bestand das Gros der Zufluchtsuchenden aus jungen Männern, die sich kurzfristig nur schwer in den Arbeitsmarkt integrieren lassen. Ernüchterung setzte ein, Skepsis machte sich breit. Merkel stand auf der Anklagebank und musste sich verteidigen. Sie habe einen Plan, sagte sie bei Anne Will. Das überzeugte nicht.

Nun ist es in Deutschland allemal besser, aus edlen Motiven zu scheitern als mit bösen Absichten Erfolg zu haben. Ein Donald Trump hätte hierzulande keine Chance. Dabei ist Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik ja gar nicht gescheitert, sie hatte es bloß lange Zeit versäumt, den humanitären Impuls vom Verdacht der Naivität zu befreien.

Bleibt sie bei ihrer neuen Linie, könnte es ihr gelingen, wieder im Einklang mit der gefühlten Mehrheitsstimmung im Land zu sein. Die lässt sich in vier knappen Sätzen zusammenfassen: Erstens sind wir stolz auf unsere Willkommenskultur im Herbst 2015. Zweitens darf sich eine solche Situation niemals wiederholen. Drittens soll das Grundrecht auf Asyl nicht angetastet werden. Viertens muss über die Probleme der Integration offen geredet werden.

Die Deutschen sind gereift im vergangenen Jahr. Ihre humanitäre Moral stieß an Grenzen, Hoffnungen auf eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise wurden enttäuscht. Merkel hat verstanden, in diesem Prozess als Spiegelbild gebraucht zu werden. Sie war einst wie die meisten – und will es nun dringend wieder werden.

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