Impfpflicht-Debatte beim Bundespräsidenten: Selbst Steinmeier kommt bei der Querdenker-Erzählung an seine Grenzen
Der Bundespräsident hat mit Bürgern und Fachleuten über die Impfpflicht diskutiert. Auch impfkritische Gäste waren dabei.
Ein Termin zur Impfpflicht beim Bundespräsidenten. Wer sich erhofft hatte, dass Frank-Walter Steinmeier sich die eigenen Finger an dem heißen Eisen verbrennen würde, wurde - erwartbar - enttäuscht. Gleich zu Beginn stellte er klar: "Als Bundespräsident werde ich mich in dieser Runde nicht zum Ja oder Nein einer allgemeinen Impfpflicht positionieren."
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Das gebiete schon "der Respekt vor dem politischen Prozess" hin zu einem Gesetz, das er selbst werde prüfen und womöglich unterschreiben müssen. Auch wenn ein Bundespräsident, so Steinmeier weiter, keine Gesetze schreibe, habe er "die Aufgabe, und ich glaube: auch die Pflicht, die öffentliche Auseinandersetzung mit schwerwiegenden Fragen einzufordern".
Genau das wolle er heute: Debatte. "Es gibt keine Demokratie ohne Debatte. Und es gibt auch in Krisenzeiten keine Demokratie ohne Debatte."
Covid war immer wieder Thema im Bellevue
Die Gespräche mit Bürger:innen und Fachleuten im Schloss Bellevue hat Tradition, Steinmeier hat sie in verschiedensten Formaten nicht nur fortgeführt, sondern gestärkt: Er sprach mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern über Drohungen und Bedrohungen, denen sie immer stärker ausgesetzt sind, mit Schwarzen Deutschen darüber, was Rassismus als Alltagserfahrung mit Menschen macht.
Auch die Erfahrung mit Covid war oft Thema - im Gespräch mit Genesenen und solchen, die weiter leiden, mit Eltern und Krankenschwestern. Und vielen Fachleuten. So auch diesmal.
Und wie immer in den Runden im Bellevue ließ sich etwas lernen. Kai Nagel, Professor an der TU Berlin, von Haus aus Verkehrssystemplaner, der seit 2020 an der TU Mobilitätsmodelle zur Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus erarbeitet, informierte auf Frage Steinmeiers über die Rolle solcher Modellierungen: "Wir hatten Wellen, die von außen gleich aussehen, aber doch unterschiedlich waren."
Die Delta-Variante sei ein gutes Beispiel: In Sachsen sei, als Delta die Infektionen bestimmte, die Impfquote deutliche 15 Prozent niedriger gewesen als in Nordrhein-Westfalen. "Jetzt haben wir in Sachsen zehnmal mehr Todesfälle durch Covid-19, davor gab es eine erhebliche Belastung der Krankenhäuser."
Verständnis für die Sorgen der Jungen
Nagel mahnte, beim Thema Impfen und Impfpflicht zwischen individueller und gesellschaftlicher Sicht zu unterscheiden: "Ich kann nachvollziehen, wenn Jüngere das Risiko der Impfung für sich für weniger akzeptabel halten als das einer Infektion."
Die andere Seite sei die gesellschaftliche: "Wenn ich Infektionen zulasse, dann entstehen womöglich Ketten, innerhalb derer es schwere Verläufe gibt und die das Krankenhaussystem stark belasten. Mit einer Impfung kann ich das verhindern." Das sei "ein bisschen wie sein Auto zum TÜV zu bringen".
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Cornelia Betsch, die an der Universität Erfurt Professorin für Gesundheitskommunikation ist, sprach über das Feld der Ungeimpften, das sie seit Beginn der Pandemie beobachtet und erforscht: Etwa 60 bis 70 Prozent sagten, sie seien auf keinen Fall bereit, sich impfen zu lassen. Das sei natürlich ein Problem.
Und wenn es um Impfpflicht gehe, gelte es auch zu sehen, was damit gemeint sei und wo und wie sie durchzusetzen sei. "Es gibt viele Möglichkeiten, Leute zum Impfen zu bewegen." Es brauche zum Beispiel mehr Aufklärung.
Information eher aus dem Supermarkt als vom Staat?
Die sei bisher "eher über Bücher gelaufen, die an der Supermarktkasse zu haben waren und vor allem impfkritisch waren". Und mehr Organisation sei nötig, das Gesundheitssystem brauche Veränderungen. "In Dänemark musste sich niemand durchs Internet wühlen, da bekamen die Leute Einladungen mit einem eigenen Termin."
Allerdings, so Betsch, wisse sie aus ihrer Forschung und der ihrer Kolleg:innen: Viele hätten schlicht Angst vor dem Impfen. Das mache die Debatte "heiß" und emotional und den Raum eng für "Pros und Cons".
Die folgende Debatte mit seinen impfkritischen Gästen - der Assistent der Geschäftsführung eines mittelständischen Betriebs nahe Bamberg und eine Lehrerin aus Kirchtellinsfurt in Baden-Württtemberg - brachte teils sogar den üblicherweise souverän moderierenden Gastgeber Steinmeier an die Grenzen seines Könnens: Gudrun Gessert und Oliver Foeth sprachen von unerprobten Impfstoffen, individueller Verantwortung und mangelhaftem Schutz durchs Impfen und dominierten teils die Debatte.
Der Hausherr und Moderator hatte gelegentlich Mühe, das Wort zu bekommen und es weitergeben zu können an den Rest der Runde.
Die Gäste aus Praxis und Wissenschaft hielten wacker dagegen: Sigrid Chongo, Leiterin einer Senioreneinrichtung in Berlin, sprach von ihrer Erleichterung, seit man die Bewohner:innen durch Impfung schützen könne - nach den verheerenden Erfahrungen der ersten Welle 2020. Cornelia Betsch nahm Gesserts Argument auseinander, dass bereits Tausende Meldungen über Impfschäden aufgelaufen seien.
Dass bei der zuständigen EU-Behörde jeder Verdacht gemeldet werden könne, "sei doch eine sehr niedrige Hürde". Entscheidend sei, ob sich der Verdacht nach Prüfung später als richtig erweise.
Corona-Diktatur? "Eine Beleidigung von uns allen"
Keine eigene Meinung, jedenfalls nicht öffentlich? Wer Steinmeiers Rede genau zugehört hatte, konnte sogar den Eindruck bekommen, dass er sich doch etwas aus der präsidialen Deckung begab: "Einschneidend" und "weitreichend" wäre eine Impfpflicht, hatte der Bundespräsident in seiner Begrüßungsrede gesagt, und: Gerade deshalb "müssen wir an ihre Begründung besonders hohe Ansprüche stellen. Und erst recht deshalb, weil eine Impfpflicht über lange Zeit von Verantwortlichen in Bund und Ländern explizit ausgeschlossen wurde."
Und schloss daran eine Mahnung an alle in Regierungsverantwortung an: Sie alle, Regierungen wie Parlamente fordere er auf, "gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren, die von einer solch weitreichenden Maßnahme tatsächlich betroffen wären".
Noch einmal trat der Bundespräsident der Querdenker-Erzählung entgegen - schon kürzlich hatte er sich, emotionaler als sonst, an Impfskeptiker:innen gewandt ("Was muss noch geschehn, um Sie zu überzeugen?").
Es gebe Menschen im Land, die sagten: "Wir haben in Deutschland eine „Corona-Diktatur“. Das ist bösartiger Unfug!" Darin drücke sich nicht nur "Verachtung für unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen." aus, sondern das beleidige "uns alle".
"Wir kämpfen uns Monat für Monat durch diese Pandemie, aber eben nicht, weil wir mit eiserner Hand gelenkt und gesteuert werden, sondern weil die große Mehrheit immer wieder darum ringt, das Richtige zu tun, verantwortlich zu handeln, solidarisch zu sein."