Jugendforscher Hurrelmann: "Selbst Spätzünder können mit 16 wählen"
Erstmals bei einer Landtagswahl in Deutschland dürfen am Sonntag in Bremen 16-Jährige wählen. Doch viele werden davon wahrscheinlich keinen Gebrauch machen. In Baden-Württemberg wäre das anders, glaubt Jugendforscher Hurrelmann.
Herr Hurrelmann, in Bremen treten am Sonntag bei der Landtagswahl auch 16-Jährige an die Wahlurnen. Sind sie in diesem Alter schon so weit?
Sie sind es. Denn die Kernfrage lautet doch: Mit welchen Kriterien werden bestimmte Bevölkerungsschichten von einer wichtigen Entscheidung ausgeschlossen? Hat ein Jugendlicher die Reife, zu wählen, die Fähigkeit, die Tragweite der Entscheidung einzuschätzen? 18 Jahre sind dafür ein sehr hohes Alter. In diesem Alter tragen Jugendliche schon viel Verantwortung. Sie organisieren zum Teil ihr Leben selbst, und aus Studien wissen wir, dass der Reifeprozess in der Pubertät immer früher beginnt – meistens mit 12. Selbst Spätentwickler haben mit 16 längst die Fähigkeit, wählen zu gehen.
Trotzdem sagen Jugendliche, sie fühlten sich noch nicht reif fürs Wählen. Sind das Einzelfälle?
Nein. Jugendliche selbst reagieren meistens sehr zurückhaltend, wenn sie danach gefragt werden. Sie haben eine sehr anspruchsvolle Herangehensweise. Sie glauben, genau wissen zu müssen, was in den Parteiprogrammen steht, wie die politischen Machtverhältnisse sind und wie die Rechtsordnung aussieht, bevor sie sich fähig fühlen, eine Stimme abzugeben. Würde man aber diese Maßstäbe an andere gesellschaftliche Gruppen legen, fiele die Wahlbeteiligung sehr gering aus.
Muss die Politik den Jugendlichen diese Hemmungen nicht nehmen?
Es ist zumindest zweifelhaft, ob sie das kann. Die Politik ist es nicht gewöhnt, so junge Leute anzusprechen. Sie muss sich auf diese Gruppe einstellen, auf ihre Themen und ihre Sprache. Das muss Politik bei anderen Gruppen auch.
Und das funktioniert nicht?
Genau. Jugendliche sind sehr reserviert gegenüber Parteien. Für viele sind das abgeschlossene Zirkel, in die man nicht reinkommt. Das stellen wir immer wieder bei unseren Studien fest. Genauso aber, dass man dies nicht mit Politikverdrossenheit verwechseln darf.
Lohnt sich für die Politik dieser Aufwand? Die demografische Entwicklung veranlasst sie doch eher, auf Senioren zuzugehen.
Das ist zumindest einfacher. Weil Parteien bei über 50-Jährigen auch immer an das Pflichtbewusstsein appellieren können, wählen zu gehen. Nur darf man eines nicht vergessen: Die beschriebenen Probleme und Herausforderungen betreffen nicht nur die 16-Jährigen, das zieht sich bis in die Altersklasse der Anfang-30-Jährigen. Außerdem ist es der im Grundgesetz definierte Auftrag der Parteien, an der Willensbildung mitzuwirken – und das betrifft nicht nur den Willen der Alten.
Wie wichtig sind Familie und Schule bei der politischen Sozialisation?
Familie ist sehr wichtig. Nicht unbedingt für die konkrete Wahlentscheidung, obwohl fast die Hälfte der 16-Jährigen angibt, so zu wählen wie ihre Eltern. Es geht vor allem darum, dass Eltern ihre Kinder überhaupt für politische Themen sensibilisieren. Die Schule wiederum muss als ein Ort der Demokratie, Mitbestimmung und Teilhabe erfahrbar sein. Das ist wichtig. Auch weil Jugendliche noch viel stärker als andere Altersklassen ihre eigene Lebenswirklichkeit zur Grundlage ihrer Wahlentscheidung machen. Das erfolgt oft spontan und sehr emotional.
Welches Alter ist für die politische Prägung besonders wichtig?
Das vorpolitische Denken wird schon in der Grundschule geprägt. Dort werden erste Erfahrungen in einem Gemeinschaftswesen und mit gemeinsam getroffenen Entscheidungen gemacht. Entscheidend ist die Phase der Pubertät. Unsere Studien zeigen, dass die politische Prägung mit dem Ende des zweiten Lebensjahrzehnts nahezu abgeschlossen ist. Die folgende Berufs- und Lebenserfahrung modifiziert diese Einstellung noch einmal. Aber die Grundorientierung bleibt.
Was heißt das für die Wahl in Bremen?
Jugendliche wählen auch sehr nutzenorientiert. Das heißt, sie fragen sich, was bewirkt meine Stimme? Habe ich eine echte Wahl? In Bremen ist mit wenig politischer Bewegung zu rechnen. Es gibt keine großen Kontroversen, und das trifft entsprechend auch nicht den Nerv der jugendlichen Wähler.
Sollten aber nur wenige 16-Jährige wählen gehen, kann es auch schnell heißen: Seht her, die brauchen das Wahlrecht nicht.
Nein. Es ist keine Faulheit, die die 16-Jährigen veranlasst, nicht wählen zu gehen, sondern Kalkül. Sie verändern mit ihrer Stimme nicht viel. Und dieser Gedanke dürfte auch in anderen Gruppen ausgeprägt sein, denen man das Wahlrecht auch nicht entzieht.
In Baden-Württemberg wären also alle 16-Jährigen wählen gegangen?
Auf jeden Fall eine große Zahl. Denn es ging um Grundsätzliches, um eine echte Kontroverse. Und es wäre keinesfalls so gewesen, dass nur die linken Parteien davon profitiert hätten. Auch die konservativen Parteien können für Jugendliche interessant sein.
Klaus Hurrelmann ist Sozial- und Jugendforscher und lehrt an der Hertie School of Governance in Berlin.
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