Die 24-Stunden-Kita: Seelische Grausamkeit oder Erleichterung?
Die Familienministerin will 24-Stunden-Kitas fördern. Das ist ein weiterer Schritt zur Ökonomisierung der Familie, sagt Antje Sirleschtov. Falsch, die Kritik daran ist wohlfeile bürgerliche Polemik, sagt Anna Sauerbrey. Ein Pro und Contra.
- Anna Sauerbrey
- Antje Sirleschtov
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie brauchen ein Zuhause, die Nähe ihrer Eltern und Beständigkeit im Alltag. Oder kurz: Kinder brauchen Familien. Weshalb es richtig ist, dass über die Modernisierung des Elterngeldes Schutzräume für Familien geschaffen werden. Und über Teilzeitmodelle und den Wert von Familienarbeit diskutiert wird. Denn Familien brauchen Zeit für Gemeinsamkeit. Kinder spielen nicht auf Befehl, sie sind keine Maschinen, sie lassen sich nicht fugenlos in den Alltag einer globalisierten Gesellschaft einpassen.
Die 24-Stunden-Kita macht die Familienpolitik zu einer Unterabteilung der Wirtschaftspolitik
Die 24-Stunden-Kita aber führt genau dahin, sie ist der Einstieg in eine Gesellschaft, in der Familienpolitik zur Unterabteilung der Wirtschaftspolitik wird. Ist die 24-Stunden-Kita erst einmal eingeführt, wird sie zur Regel werden. Arbeitgeber erhalten beste Argumente, um Druck auf Eltern auszuüben. Teilzeit? Familienfreundliche Arbeitszeiten? Wozu, wenn Kinder um drei Uhr nachts zur Kita getragen werden können? Demnächst wird die völlige Verfügbarkeit von Müttern und Vätern im Produktionsprozess zum Standortvorteil erklärt.
Haben die Befürworter der Rundumbetreuung, wie etwa Manuela Schwesig und Berlins CDU, in Ostdeutschland ältere Mütter zu ihren Erfahrungen mit der Wochenkrippe und der 24-Stunden-Kita befragt? Die Entkoppelung der Familie war Staatsziel der DDR. Als „Befreiung der Frau“ hatte das August Bebel in „Die Frau und der Sozialismus“ verbrämt. In Wahrheit ist es die Ökonomisierung der Familie, eine Auflösung von individuellen Bindungen und Traditionen im Interesse kollektiver Ziele. Damals – und auch heute.
Seelische Grausamkeiten für Groß und Klein
Wie das war? Kinder wurden von Montag bis Freitag in Betreuungseinrichtungen gebracht. Oder Krankenschwestern haben nachts ihre Kinder abgegeben, acht Stunden gearbeitet, dann geschlafen und die Kleinen am Nachmittag wieder abgeholt, nur um sie in der nächsten Nacht wieder dort hinzubringen. Seelische Grausamkeiten für Groß und Klein. Niemand im bürgerlichen Mittelstand, der sich Tagesmütter leisten kann, würde seinem Kind heute so etwas antun. Warum will ausgerechnet eine SPD-Politikerin Verkäuferinnen, Putzkräften im Hotel oder Pflegerinnen – also Geringverdienern – dieses Schicksal zumuten? Alternativen gibt es: Alleinerziehende erhalten Geld für Betreuung zu Hause, wenn sie in Schichten arbeiten. Gewerkschaften erkämpfen familienfreundliche Arbeitszeitregelungen und Hilfen für Schichtarbeiter. Und die Familienministerin kümmert sich um die Interessen der Familien und weniger um die der Wirtschaft.
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Auf den ersten Blick mögen die 24-Stunden-Kitas, die Familienministerin Manuela Schwesig nun von 2016 bis 2018 mit 100 Millionen Euro fördern will, wie ein Instrument dieser vom Staat unterstützten Frauenversklavung wirken: Damit sie jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, auch nachts, wird die Betreuung ausgebaut. Graue Arbeitsbienen geben ihre schlafenden Liebsten ab und stellen sich dann ans Fließband der Weltungerechtigkeit.
In Wahrheit ist es anders herum: Nicht die 24-Stunden-Kita ist ein bürgerlich-kapitalistisches Projekt – die Kritik daran ist wohlfeile bürgerliche Polemik.
Gar nicht oder halbtags zu den Öffnungszeiten regulärer Kitas und Kindergärten zu arbeiten, kann sich heute nur die gehobene Mittelschicht leisten. Schließzeiten schon zwischen 15 und 17 Uhr sind auch in Berlin die Regel. Welcher reguläre Arbeitstag ist da schon zu Ende?
All jene, die ein Kind allein großziehen, deren Partner nicht genug für alle verdient, oder die einen Beruf haben, der Nacht- und Schichtarbeit erfordert, sind angewiesen auf flexiblere Betreuungsangebote: Alleinerziehende, Krankenschwestern, Altenpfleger, die Verkäuferin, die bis 22 Uhr Dienst schiebt. Sie alle arbeiten, während Akademikermuttis mit den Kleinen bei der musikalischen Früherziehung im Stuhlkreis sitzen und von einer Welt träumen, in der es keinen Zwang gibt.
Vielleicht stimmt es sogar, dass die Welt vor der letzten kapitalistischen Beschleunigungsphase – vor der digitalen Dauererreichbarkeit, vor der Agenda 21, vor dem Billiglohnsektor, vor der Globalisierung, vor dem ganzen 24/7-Wahnsinn – familienfreundlicher war. Aber es waren weder der Feminismus noch die Familienpolitik, die diese Welt erzeugt haben.
Familienpolitik aber kann die Auswirkungen lindern und jenen die Teilhabe am Arbeitsmarkt (mit allen Chancen und Risiken) ermöglichen, die den Druck am stärksten spüren.
Und wenn Mami und Papi nicht immer so gestresst sind, weil sie um 15 Uhr zur Kita rennen müssen, bleibt vielleicht noch ein Rest Energie zum Nachdenken über die nächste Revolution.