Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren: Seehofers Grenzen der Freizügigkeit
Die CSU will die Arbeitnehmerfreizügigkeit einschränken – die SPD ist empört. Worum geht es eigentlich in diesem Konflikt - und wie berechtigt sind die Argumente?
Es ist eine heftige Debatte, die sich die Koalitionspartner SPD und CSU zum Auftakt ihrer Zusammenarbeit liefern. Seitdem bekannt wurde, dass die bayerische Regierungspartei unter dem Motto „Wer betrügt, der fliegt“ Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien einschränken will, warnen führende Sozialdemokraten wie die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier davor, „durch falsche Pauschalurteile die Stimmung in unserer Gesellschaft gegen Arme aufzuheizen“ (Özoguz) oder gar vor Schaden für Europa und für Deutschland (Steinmeier). CSU-Chef Horst Seehofer konterte mit dem Hinweis, die SPD selbst habe sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, Anreize für Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme zu verringern.
Was ist der Hintergrund
der scharfen Botschaften der CSU?
Auffällig ist der Zeitpunkt der eingängigen Thesen zu dem höchst sensiblen Thema: Im März sind in Bayern Kommunalwahlen, im Mai wird das Europaparlament gewählt – die bayerische Regierungspartei sucht ein Profilierungsthema. Dabei nimmt sie in Kauf, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes für die Bürger der beiden EU-Länder vor allem als Bedrohung der Deutschen erscheint, und erntet dafür Kritik aus Rumänien und Bulgarien. Deutsche Debatten über Armutszuwanderung verschärfen häufig die Lage der Roma und Sinti dort. Die Minderheiten werden von ihren Landsleuten dann für das schlechte Image ihrer Nationen in Deutschland verantwortlich gemacht. Auffällig ist auch: Viele der großen Städte, die über die Kosten der Einwanderung von Gering- oder Nichtqualifizierten klagen, liegen nicht in Bayern.
Tatsächlich beschreibt der Koalitionsvertrag mit der Zustimmung der SPD Instrumente gegen einen Missbrauch sozialer Sicherungssysteme durch Migration – bis hin zu befristeten Einreisesperren, wie sie die CSU nun fordert. Allerdings nennt das Papier auch Lösungsansätze zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsstaaten auf EU-Ebene. So soll Deutschland Verwaltungsunterstützung anbieten, damit die Herkunftsländer künftig EU-Finanzmittel abrufen und zielgerecht einsetzen. Bislang wird nur ein Bruchteil der EU-Hilfe angefordert.
Das SPD-geführte Bundesfamilienministerium lehnt die Forderung der CSU ab, Kindergeld nur an Kinder zu zahlen, die in Deutschland eine Kita oder eine Schule besuchen. Im Koalitionsvertrag findet sich der Vorschlag nicht. Jan Korte von der Linksfraktion erinnerte am Donnerstag dennoch an die Mitverantwortung der SPD. Wer einen Koalitionsvertrag unterschreibe, „in dem sich die Koalitionspartner explizit verpflichten, ,der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken’ zu wollen, hat die Noten für Seehofers Tanz mit dem rechten Rand mitgeschrieben“, sagte er dem Tagesspiegel. Die Empörung der SPD über die CSU-Pläne sei „inhaltlich richtig“, doch müssten sich die Sozialdemokraten „zuerst an die eigene Nase fassen“. Die Grünen sehen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Pflicht. Parteichef Cem Özdemir sagte, während „CSU und SPD wie die Kesselflicker“ stritten, „meditiert Angela Merkel im Kanzleramt und tut so, als ob sie die irdischen Probleme nichts angehen würden“.
Droht eine Welle von Armutszuwanderern aus Bulgarien und Rumänien?
Die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien könne keinesfalls pauschal als „Armutszuwanderung“ qualifiziert werden, warnt das bundeseigene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der Migrationsforscher Klaus F. Zimmermann vom Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) nennt die CSU-Thesen denn auch „unverantwortliche Stimmungsmache“. Die große Mehrheit der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien seien gut qualifizierte Fachkräfte wie Ärzte oder Ingenieure, die in Deutschland dringend gebraucht würden. „Entgegen manchen Stammtischparolen“, so Zimmermann, zählten Bulgaren und Rumänen „schon jetzt zu den besonders gut integrierten Ausländergruppen bei uns“. Tatsächlich weisen auch die IAB-Daten aus, dass die Arbeitslosenquote der in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen Mitte 2013 mit 7,4 Prozent etwas geringer war als die der Deutschen (7,7 Prozent), 60 Prozent von ihnen sind erwerbstätig. Allerdings gibt es einige gravierende Probleme, auf die das IAB hinweist: 46 Prozent der Bürger aus den beiden EU-Staaten, die nach 2007 zugewandert sind, hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Die stetige Zunahme des Anteils der Leistungsbezieher unter den Migranten aus beiden Ländern nennt das Institut „beunruhigend“. Zudem verweisen die Arbeitsmarktforscher auf die sozialen und ökonomischen Probleme von Bulgaren und Rumänen in einigen strukturschwachen Städten wie Duisburg, Dortmund und Berlin. Dort sei der Anteil der Arbeitslosen- und Leistungsempfänger „zum Teil sehr hoch“.
Was hat sich für Bulgaren und Rumänen seit Neujahr konkret geändert?
In Deutschland gilt seit dem 1. Januar für Rumänen und Bulgaren die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das bedeutet, dass Bürger aus diesen beiden EU-Ländern in Deutschland nun auch als Arbeitnehmer in jedem Fall – also auch bei geringerer Qualifizierung – auf Jobsuche gehen können. Bulgarische und rumänische Hochschulabsolventen, Facharbeiter und Auszubildende konnten laut Bundesarbeitsministerium schon vor dem Stichtag ohne gesonderte Genehmigung in Deutschland arbeiten. Auch als Selbstständige oder Saisonarbeiter konnten Rumänen und Bulgaren hierzulande schon bisher arbeiten. Das Recht auf Freizügigkeit in der Europäischen Union besagt, dass sich jeder EU-Bürger in den ersten drei Monaten ohne Vorbedingungen in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf. Wer in Deutschland eine Arbeitsstelle gefunden hat, genießt laut EU-Kommission gemeinsam mit den direkten Familienangehörigen ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht.
Welche Vorgaben macht das EU-Recht mit Blick auf Sozialleistungen?
Wie großzügig die 28 EU-Mitgliedsländer bei der Vergabe von Sozialleistungen vorgehen, ist den Staaten jeweils selbst überlassen. Es gibt also keine EU-Vorgabe, derzufolge Arbeitsmigranten automatisch Anspruch auf Sozialleistungen haben.
In den ersten drei Monaten ist ein EU-Aufnahmeland nach europäischem Recht nicht verpflichtet, arbeitslosen EU-Bürgern, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Anspruch nehmen, Sozialhilfe zu gewähren. Nach der EU-Freizügigkeitsrichtlinie kann der Missbrauch von Sozialleistungen sogar mit Ausweisungen und Wiedereinreisesperren geahndet werden – die CSU-Forderungen nach harter Bestrafung von Sozialbetrügern sind also schon heute EU-Recht.
Ohnehin ist es zumindest nach europäischem Recht in der Praxis kaum möglich, dass Arbeitslose oder Jobsucher aus dem Ausland hierzulande Sozialleistungen beanspruchen können. EU-Bürger wie Bulgaren oder Rumänen, die arbeitslos sind, können sich nur dann länger als drei Monate in ihrer neuen Heimat aufhalten, wenn sie über ausreichende finanzielle Eigenmittel verfügen. Wer aktiv Arbeit sucht, kann sich sechs Monate oder länger im EU-Aufnahmeland aufhalten, sofern er eine „begründete Aussicht“ auf Arbeit hat. Allerdings geht das EU-Recht auch in diesen Fällen nicht von einer Unterstützung durch Sozialleistungen des Aufnahmelandes aus; dagegen können Jobsucher Arbeitslosenunterstützung von ihrem Herkunftsland erhalten, wenn sie dort zuvor als arbeitslos registriert wurden.
Da die EU nicht in die Sozialgesetzgebung der Mitgliedstaaten eingreift, basierte ein Urteil des Landessozialgerichts von Nordrhein-Westfalen vom Oktober, das von vielen Kommunen mit Besorgnis betrachtet wird, allein auf deutschem Recht. Einer rumänischen Roma-Familie war Hartz IV mit der Begründung zugesprochen worden, ihre Arbeitssuche in Deutschland sei nicht erfolgversprechend. Ein Vorteil für die Betroffenen muss das jedoch nicht sein, weil ihnen mit der Feststellung, sie hätten keine Chance auf Arbeit, die Abschiebung droht. Allerdings gibt es zur Frage, ob arbeitssuchende EU-Bürger von Hartz IV ausgeschlossen werden können, noch keine Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs.
Die Rechtslage für EU-Ausländer ändert sich erneut, wenn sie sich fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmeland aufgehalten haben: In diesem Fall können EU-Bürger genauso wie Staatsangehörige des Aufnahmelandes Sozialhilfe beantragen – eine Diskriminierung ist nach EU-Recht nicht möglich.
Wie mobil sind die EU-Bürger?
Insgesamt leben über 14 Millionen EU- Bürger in einem anderen Mitgliedsland. Nach Angaben der EU-Kommission besteht kein statistischer Zusammenhang zwischen der Großzügigkeit der Sozialsysteme und dem Zuzug aus dem EU-Ausland. Nach der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 suchten zahlreiche Polen zunächst in Großbritannien und Irland Arbeit, weil dort der Arbeitsmarkt im Gegensatz zu Deutschland komplett geöffnet war. Laut der britischen Statistikbehörde ONS stieg die Zahl der in England und Wales lebenden Menschen mit polnischen Wurzeln zwischen 2001 und 2011 um das Zehnfache – von 58 000 auf 579 000. Damit wurden die Polen nach den Indern dort nach der Osterweiterung zur zweitstärksten ausländischen Community.
Albrecht Meier, Hans Monath