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Grünen-Chefin Simone Peter fordert eine „Akzeptanzoffensive der Bundesregierung“. Wer ständig von Asylmissbrauch spreche, sorge nicht für Akzeptanz.
© Georg Moritz

Grünen-Chefin über Flüchtlingspolitik: "Seehofer setzt nur auf Abschreckung"

Simone Peter, Grünen-Chefin, spricht sich im Interview gegen das Instrument der „sicheren Herkunftsstaaten“ aus, mit dem Flüchtlinge abgelehnt werden. Das Thema bringt die Grünen in die Bredouille.

Frau Peter, die Kanzlerin hat dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Reem gesagt: „Nicht alle können bleiben.“ War das herzlos – oder einfach nur die Wahrheit?
Natürlich ist es die Wahrheit. Nicht alle, die zu uns kommen, können auch bleiben. Aber mich hat gestört, dass die Kanzlerin nicht auf die persönliche Situation von Reem einging, einer jungen Frau, die sehr gut Deutsch spricht und offensichtlich gut integriert ist. Das nicht zu tun, war herzlos. Wir brauchen neue Wege bei der Einwanderung.

Was hätte die Kanzlerin denn tun sollen?
Ich fand es befremdlich, dass Merkel so wenig Empathie aufgebracht hat. Wer einzelne Schicksale kennt, entwickelt auch mehr Mitgefühl. Die Kanzlerin sollte endlich einmal ein Flüchtlingsheim besuchen.

Was erhoffen Sie sich davon?
Ich erhoffe mir, dass andere Politiker es ihr nachtun und vor Ort für Verständnis werben. Die Wahrheit ist: Deutschland muss angesichts der weltweiten Krisen viel mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dafür ist eine Akzeptanzoffensive der Bundesregierung notwendig.

Was heißt das?
Wir rechnen mit 500 000 Asylbewerbern in Deutschland in diesem Jahr. Da muss die Bevölkerung vor Ort frühzeitig informiert werden. Es braucht einen permanenten Austausch aller Entscheidungsebenen und andere Sprachbilder. Wer ständig von Asylmissbrauch spricht, sorgt nicht für Akzeptanz.

Kann es für Deutschland eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen geben?
Natürlich kann es keine Obergrenzen geben, solange wir mit Krisen wie in Syrien oder Hungersnöten und Verfolgung in Zentralafrika konfrontiert sind. Wir haben die Kraft, mehr Menschen aufzunehmen. Wir können nicht einfach die Schotten dicht machen, wenn es darum geht, Menschen in Not zu helfen. Deshalb muss sich neben der Bekämpfung der Fluchtursachen auch die EU-Flüchtlingspolitik grundlegend ändern.

Wie denn?
Die Bundesregierung muss mit dazu beitragen, dass die Abwehrpolitik der EU beendet und das Mittelmeer nicht länger zum Massengrab wird. Für Flüchtlinge soll es sichere Wege nach Europa geben, zum Beispiel durch humanitäre Visa, die in den Krisengebieten beantragt werden können. Die meisten Flüchtlinge, die übers Mittelmeer kommen, dürfen ohnehin bleiben.

Würde Deutschland mit dieser Herausforderung fertig? Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sieht die Belastungsgrenze für die Gesellschaft schon jetzt weit überschritten.
Mit seinem Populismus treibt Horst Seehofer einen Keil in die Gesellschaft. Es ist gefährlich, in der jetzigen Situation die Rhetorik zu verschärfen. Wenn die CSU die Stimmung an den Stammtischen anheizt, ist das unverantwortlich. Das ist geistige Brandstiftung, die andere zur tatsächlichen Brandstiftung animiert.

Gibt es in Deutschland kein reales Problem bei der Unterbringung so vieler Flüchtlinge?

Doch. Und die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür. Seit Jahren ist bekannt, dass die Flüchtlingszahlen steigen werden. Aber die Regierung hat nichts getan, um rechtzeitig mit Ländern und Kommunen Unterbringungskapazitäten aufzubauen. Städte und Gemeinden müssen jetzt zuallererst deutlich mehr Geld erhalten, um Flüchtlinge ordentlich zu versorgen. Außerdem muss die Gesundheitskarte endlich bundesweit umgesetzt werden.

Wie viel Verständnis müssen Politiker aufbringen für die Ängste in der Bevölkerung?
Ängste und Widerstände sind mir bei meinen Reisen durch die Bundesländer selten begegnet. Ich treffe viele Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren. Natürlich ist es ein Alarmzeichen, wenn es vor Flüchtlingsheimen immer öfter fremdenfeindliche Aufmärsche gibt. Das dürfen Politiker nicht auch noch durch Angstparolen befeuern, sondern müssen sich deutlich dagegenstellen.

"Eine Abschiebung ist immer ein inhumaner Akt"

Grünen-Chefin Simone Peter fordert eine „Akzeptanzoffensive der Bundesregierung“. Wer ständig von Asylmissbrauch spreche, sorge nicht für Akzeptanz.
Grünen-Chefin Simone Peter fordert eine „Akzeptanzoffensive der Bundesregierung“. Wer ständig von Asylmissbrauch spreche, sorge nicht für Akzeptanz.
© Georg Moritz

Die Hälfte aller Flüchtlinge stammt vom Balkan und hat kaum Chancen auf Asyl. Bayern will Aufnahmelager an der Grenze einrichten, um diese Flüchtlinge schneller abzuschieben. Ist das grundsätzlich falsch?
Das ist an Zynismus kaum zu überbieten. Wir können doch nicht in Flüchtlinge erster und zweiter Klasse unterscheiden.

Würde nicht auch eine Regierung der Grünen die meisten Asylbewerber aus den Balkanstaaten abschieben?
Nach unserem Asylrecht haben Flüchtlinge vom Balkan nur geringe Chancen, hier zu bleiben. Trotzdem muss jeder Asylbewerber Anspruch auf Einzelfallprüfung haben. Wenn wir diesen Grundsatz aufgeben, opfern wir unsere Humanität.

Ist es human, Zigtausende monatelang auf einen Asylbescheid warten zu lassen, um sie dann doch abzuschieben?
In Deutschland gibt es im Moment 240 000 Menschen, die bis zu zwei Jahre und länger auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag warten. Das ist inhuman. Wir sollten dafür sorgen, dass Asylanträge innerhalb von drei Monaten bearbeitet werden. Dazu muss das Personal beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge endlich aufgestockt werden. Auch hier hat die Bundesregierung bislang versagt.

Flüchtlinge, die keine Chance haben, hier zu bleiben, sollen also schneller wieder gehen. Das Ziel verfolgt Seehofer doch auch.
Nein. Seehofer setzt nur auf Abschreckung. Er will Roma-Abschiebelager einrichten, statt anständige Unterkünfte für Asylbewerber zu schaffen. Aus der CSU werden außerdem Rufe laut, Asylbewerbern das Taschengeld zu kürzen. Das finde ich unchristlich und asozial.

Aber im Grundsatz halten Sie die Abschiebung der meisten Balkanflüchtlinge für richtig?
Nein. Es gibt Alternativen zur Abschiebung. Und wir fordern die Regierung dringend dazu auf, ein jährliches Kontingent für 5000 Roma einzuführen. Aus den Balkanstaaten fliehen viele Roma vor Diskriminierung. Wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung, denn im dritten Reich wurden Roma verfolgt, deportiert und ermordet. Es ist geschichtsvergessen, wenn die Bundesregierung mit ihrer Flüchtlingspolitik darauf keine Rücksicht nimmt.

Gibt es überhaupt humane Abschiebungen?
Eine Abschiebung ist immer ein inhumaner Akt. Ich war vor einiger Zeit in einer Kita neben einem Flüchtlingsheim. Die Erzieherinnen müssen die Kinder intensiv betreuen, die Abschiebungen von Freunden erlebt haben. Wenn Familien mit Kindern frühmorgens geweckt und in Bussen zum Flughafen gebracht werden, ist das ein Trauma – für sie selber und für das Umfeld. Auch deshalb müssen wir versuchen, Abschiebungen zu vermeiden.

Wie?
Wir sollten Asylbewerber sofort nach ihrer Ankunft darüber aufklären, welche Chancen sie haben, hier zu bleiben. Wenn sie keine Bleibeperspektive haben, sollten sie beraten werden, wie sie in ihrer Heimat neu anfangen können. Dabei kann auch Rückführungsgeld unterstützend wirken. Rheinland-Pfalz macht das so – mit Erfolg. Die Abschiebungen werden reduziert und die Kosten für Unterbringung und Versorgung insgesamt gesenkt.

Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist bereit, mit der Bundesregierung über eine Ausweitung der sicheren Herkunftsländer auf die Balkanstaaten Albanien, Kosovo und Montenegro zu reden. Tragen Sie das mit?
Das Instrument der sicheren Herkunftsstaaten hat sich nicht bewährt. Die Ausweitung auf Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina im letzten Jahr hat ersten Erhebungen zufolge keine signifikante Entlastung gebracht. Den von Winfried Kretschmann geforderten Nachweis der Wirkung ist die Bundesregierung schuldig geblieben. Und bei Ländern wie Mazedonien von sicheren Herkunftsstaaten zu sprechen, blendet aus, dass Minderheiten wie Roma oder Homosexuelle täglicher Diskriminierung ausgesetzt sind. Deshalb haben wir auf unserem letzten Parteitag beschlossen, eine Ausweitung abzulehnen.

Kretschmann will außerdem mehr Flüchtlinge in Ostdeutschland unterbringen, weil dort weniger Menschen leben und es mehr Wohnraum gibt. Gute Idee?
Winfried Kretschmann will den bisherigen Verteilungsschlüssel nicht grundsätzlich infrage stellen, sondern hat das für Engpässe ins Spiel gebracht. Uns ist aber klar: In den östlichen Bundesländern mag es zwar mehr Wohnkapazitäten geben. Aber es fehlen Geld und Strukturen, um eine vernünftige Versorgung der Flüchtlinge zu garantieren.

Welche Risiken sehen Sie denn, wenn man Flüchtlinge in strukturschwache Regionen im Osten schickt?
Wenn Versorgung und Betreuung vor Ort nicht gewährleistet sind, wird das den Flüchtlingen nicht gerecht und schafft auch keine Akzeptanz.

Was schlagen Sie vor, um mehr Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen?
Staatliche Förderprogramme für Bürger, die ihre Wohnungen für Flüchtlinge zur Verfügung stellen, helfen. Dafür stellen einige Bundesländer wie Baden-Württemberg Zuschüsse für Investitionen bereit. Das wäre auch ein Modell für den Bund.

Das Interview führten Cordula Eubel und Stephan Haselberger. Es war Teil eines vierseitigen Tagesspiegel-Dossiers zum Thema "Flüchtlinge in Deutschland", das vor einer Woche erschienen ist.

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