Europa braucht Einigkeit: Schüttet die alten Gräben zu
Der Verzicht auf Nord Stream 2 würde Europa politisch und psychologisch neue Chancen eröffnen. Ein Gastbeitrag.
Janusz Reiter, geboren 1952, war von 1990 bis 1995 Botschafter Polens in Deutschland und von 2005 bis 2007 in den USA. Unter dem damaligen Premier Donald Tusk beriet er seine Regierung als Klimabotschafter und ist heute Vorsitzender des Center for International Relations in Warschau.
Nein, das Erdgas in Deutschland wird nicht knapp, wenn Nord Stream 2 gestoppt wird. Gewiss, die beteiligten Firmen machen sich Sorgen. Das wahre Problem aber ist die Angst vor einer Krise im deutsch-russischen Verhältnis und die Unsicherheit, welche Konsequenzen sie hat. Wenn man aber so oft wiederholt, dass Krisen auch Chancen bieten, warum sollte das jetzt nicht gelten?
Nord Stream 2 war ein Produkt von Russlands geopolitischer Strategie und Deutschlands scheinbar unpolitischer Strategieleugnung. Ein vom Anfang an wackeliges Konzept, dessen Konstruktionsfehler nun zutage treten. Ein Scheitern würde zweifellos Verstimmungen in den Beziehungen mit Moskau auslösen, gleichzeitig aber Deutschland und seine Partner unter Druck setzen, eine gemeinsame Russland- und Osteuropastrategie zu entwickeln und der europäischen Energiepolitik auf die Sprünge zu helfen.
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Frankreichs Verhalten gibt dabei Anlass zur Hoffnung. Präsident Macron ist anscheinend bereit, einen gemeinsamen Kurs mit Deutschland zu verfolgen. Auch Großbritannien, trotz Brexit nach wie vor eine wichtige europäische Macht, wird Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit unterstützen. Die östlichen Nachbarn würden aufatmen, wenn sich Deutschland von Nord Stream 2 verabschiedet.
Zu Schadenfreude besteht kein Grund
Auf Schadenfreude sollten sie allerdings verzichten. Das kann man auch für Washington hoffen. So bedrückend es ist, dass die USA ihre traditionelle Rolle als Führungsmacht des Westens zurzeit nicht erfüllen, auf eines kann man sich verlassen: Eine Demonstration europäischer Einigkeit würde wohl auch die amerikanische Politik beeindrucken. Für einen Neubeginn im transatlantischen Verhältnis nach den Novemberwahlen wäre das keine schlechte Voraussetzung.
Nord Stream 2 ist ein deutsches Projekt. Es hat Europa gespalten und Irritationen im deutsch-amerikanischen Verhältnis ausgelöst. Die meisten europäischen Kritiker haben ihre Vorbehalte für sich behalten, weil sie sich mit Deutschland nicht anlegen wollten. Ein Ausstieg müsste jedenfalls so gestaltet werden, dass alte Gräben zugeschüttet werden und zugleich neue Ideen entstehen. Vor allem drei Länder sollten dabei die Führung übernehmen: Deutschland, Frankreich und Polen – auch wenn keineswegs ausgemacht ist, dass Warschau mitmacht.
Das bisherige Festhalten am Nord Stream 2 wurde manchmal als Zeichen deutscher Stärke gewertet. Der Preis war, dass Europa als Ganzes wieder einmal den Eindruck von Schwäche vermittelte – nicht nur in Russland. Das wiederum kann nicht in Deutschlands Interesse liegen. Es wäre höchste Zeit, sich in Europa darauf zu einigen, dass die Schwäche des Kontinents allen, auch den Amerikanern, schadet.
Man darf sich keinen Illusionen hingeben: Eine Strategie entsteht nicht von heute auf morgen, zumal wenn sie den historisch und psychologisch kompliziertesten Bereich europäischer Außenpolitik betrifft, die Beziehungen mit Russland und Osteuropa. Aber wenn sie überhaupt entsteht, dann nicht in wissenschaftlichen Seminaren, sondern unter dem Druck der Ereignisse.
Repression nach innen, Aggression nach außen
Anfangen müsste man mit einer selbstkritischen Bilanz. Wie gehen wir mit einem Russland um, das nach innen repressiver wird und nach außen aggressiver handelt? Moskau muss und wird Europa nicht lieben lernen, aber was können wir tun, damit es Europa respektiert?
Das Ziel der europäischen Bemühungen kann nicht sein, ein Russland der Träume zu bekommen, sondern Bedingungen zu schaffen, selbstbewusst und mit einer klaren Definition der eigenen Interessen zusammenzuarbeiten. Sollte es gelingen, in dieser Frage eine gemeinsame deutsch-französisch-polnische Position zu erreichen, wäre es ein ermutigendes Zeichen europäischer Handlungsfähigkeit. Auch in der Energiepolitik würde ein Verzicht auf Nord Stream 2 politisch wie psychologisch neue Chancen eröffnen.
Europa ist gut beraten, seine Gasversorgung auf eine sichere Basis zu stellen. Das Netzwerk von LNG-Terminals ist inzwischen so weit ausgebaut, dass wir als Käufer eine starke Wettbewerbsposition haben. In der Stromversorgung haben wir inzwischen de facto einen Konsens in der Hinwendung zu erneuerbaren Energien. Was wir brauchen, ist mehr Interkonnektivität als Beitrag zur Versorgungssicherheit und zur Kostensenkung.
Auch eine europäische Wasserstoffstrategie kann die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft erhöhen. Wir stehen vor einer der schwierigsten Entscheidungen der europäischen Politik der letzten Jahre. Sie ist, vor allem in Deutschland selbst, weder selbstverständlich noch risikofrei. Sie birgt aber auch Chancen, auf die Europa ausgerechnet in der jetzigen verzwickten weltpolitischen Lage nicht verzichten sollte.
Janusz Reiter